Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Kreuzeschlagen von Kannibalen noch lange kein wirkliches Christentum ist – selbst bei dem berühmten Verteidiger ihrer Mission in São Paulo bei Tibiriçê erleben sie gelegentliche Rückfälle in den Kannibalismus – und sie vergeuden nicht ihre Zeit mit prahlerischen Statistiken über die schon gewonnenen Seelen. Sie wissen, daß ihre eigentliche Aufgabe in der Zukunft liegt. Zunächst einmal nur die nomadische Masse an stabilen Stätten anwurzeln lassen, damit man ihre Kinder erfassen und belehren kann. Das gegenwärtige kannibalische Geschlecht ist nicht mehr ernstlich zu kultivieren. Aber ihre Kinder und Kindeskinder, also die kommenden Generationen, im Sinne der Kultur auszubilden, kann leicht gelingen. Darum ist es den Jesuiten das Wichtigste, Schulen einzurichten, in denen sie, weit vorausblickend, mit jener Idee systematischer Vermischung beginnen, die Brasilien zur Einheit geformt und allein als Einheit erhalten hat. Bewußt vereinen sie Kinder aus den Strohhütten der Wilden mit den schon zahlreichen Mischlingen und fordern dringend weiße Kinder aus Lissabon, mögen es auch nur die verwahrlosten, die verlassenen Kinder sein, die in den Straßen Lissabons aufgelesen werden. Jedes neue Element, das die Mischung befördert, ist ihnen willkommen, sogar die moços perdidos, ladrões e maus que aqui chamam de patifes . Denn es gilt für sie, da die Eingeborenen gleichfarbigen oder mischfarbigen Brüdern bei dem religiösen Unterricht mehr Vertrauen schenken als den Fremden, den Weißen, sich die Lehrer des Volkes aus dem eigenen Blut des Volkes zu schaffen. Im Gegensatz zu den andern denken sie ausschließlich in und für kommende Generationen; strenge und klare Realisten und Rechner, haben sie als einzige eine wirkliche Vision des kommenden, des werdenden Brasiliens, und noch ehe irgendein Geograph die räumliche Größe dieses Landes ahnt, stellen sie ihre Arbeit auf den richtigen Maßstab ein. Es ist ein Feldzugsplan für die Zukunft, den sie entwerfen, und sein letztes Ziel bleibt unverrückbar durch die Jahrhunderte: Formung dieses neuen Landes im Geist einer einzigen Religion, Sprache und Idee. Daß dieses Ziel erreicht wurde, bleibt Brasiliens dauernde Dankesschuld an diese ersten Schöpfer ihrer Staatsidee.
Der eigentliche Widerstand, auf den die Jesuiten mit ihrem großzügigen Kolonisationsplan stoßen, kommt nicht, wie man zuerst erwarten konnte, von den Eingeborenen, den Wilden, den Kannibalen; er kommt von den Europäern, den Christen, den Kolonisten. Bisher war für diese entlaufenen Soldaten, desertierten Matrosen, für die Desgregados Brasilien ein exotisches Paradies gewesen, ein Land ohne Gesetze und Einschränkungen und Verpflichtungen, in dem jeder tun und lassen konnte, was ihm beliebte. Ohne von Justiz oder Autorität ernstlich behelligt zu werden, konnten sie den wüstesten Trieben freien Lauf gewähren; was in ihrem Heimatland mit Kette und Brandmarkung geahndet wurde, galt hier als erlaubtes Vergnügen gemäß der Conquistadorendoktrin: Ultra equinoxialem non peccatur . Sie beschlagnahmten Land, wo und wieviel sie wollten, sie holten sich Eingeborene, wo sie sie gerade fanden und ließen sie unter der Peitsche roboten. Sie nahmen jede Frau, die ihnen über den Weg lief, und die ungeheure Zahl der Mischkinder illustrierte bald die Verbreitung dieser wilden Vielweiberei. Niemand war zur Stelle, ihnen Autorität aufzuzwingen, und so lebte jeder dieser Gesellen, die meist noch die Brandmale des Zuchthauses auf den Schultern trugen, wie ein Pascha, ohne sich um Recht und Religion zu kümmern und vor allem ohne jemals selbst die Hand zu wirklicher Arbeit zu rühren. Statt das Land zu zivilisieren, waren diese ersten Kolonisten selber verwildert.
Dieser rüden, an Müßiggang und Selbstherrlichkeit gewöhnten Rotte wieder Zucht beizubringen, bedeutete eine harte Aufgabe. Was die frommen Brüder am meisten entsetzt, ist die zügellose Vielweiberei, das braune Haremswesen. Aber anderseits, wie diese Männer anklagen, daß sie hier in wildem Konkubinat leben, da doch gar keine Möglichkeit für sie besteht, legal zu heiraten und eine Familie zu gründen? Denn wie eine Familie gründen, die allein Grundlage bürgerlicher Gesittung werden kann, wenn weiße Frauen völlig fehlen? So drängt Nóbrega den König, er möge Frauen aus Portugal herüberschicken: Mande Vossa Alteza mulheres órfãs, porque tôdas casarão . Und da nicht zu erwarten ist, daß die Fidalgos Portugals ihre Töchter in
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