Stefan Zweig - Gesammelte Werke
maschinellen Methoden, droht schließlich auch die Landwirtschaft und Kaffeeanpflanzung zu versagen. Wieder erhebt sich der alte Ruf des Anfangs: Hände her nach Brasilien! Hände, Menschen her um jeden Preis! Das zwingt die Regierung, die Immigration, die bisher ein bloßes laissez-faire gewesen, eine passive, gleichgültige Einstellung, durch Anlockung europäischer und asiatischer Einwanderer systematisch in Schwung zu bringen. Vor der Ära des Kaffees hatte Brasilien nur eine landwirtschaftliche Immigration gekannt. Schon 1817 ließ König João durch europäische Agenten zweitausend Schweizer Kolonisten anwerben, die eine Siedlung Nova Friburgo begründeten, ihnen folgte 1825 eine deutsche Gruppe in Rio Grande do Sul, nach und nach entwickelten sich durch den Zuzug von etwa 120.000 Deutschen nach dem Süden Brasiliens in Santa Catarina und Paranê geschlossene deutsche Bezirke; aber alle diese Zuwanderung war mehr oder minder durch eigene Initiative der Auswanderer oder durch die vermittelnde Tätigkeit privater Agenturen erfolgt. Nun erst, da eine neue große und erträgnisreiche Produktion in Schwung kommt und die Sklavenarbeit wegfällt, entschließt sich der Staat und besonders die Provinz von São Paulo, die Einwanderung in größerem Maßstabe als bisher zu fördern, indem sie den Unbemittelten die Schiffsreise aus eigenen Mitteln finanziert und für alle diejenigen, welche sich der Landwirtschaft zuwenden wollen, Grund und Boden zur Verfügung stellt. Diese Zuschüsse erreichen in den entscheidenden Jahren bis zu zehntausend Konto im Jahr an barem Gelde; aber kaum Brasilien den Weg gebahnt und die Tore geöffnet hat, strömen schon die Massen herein. Im Jahr nach der Sklavenbefreiung, 1890, steigt die Immigration von 66.000 Köpfen auf 107.000, um 1891 die bisher erreichte Höchstzahl von 216 760 zu erreichen, und hält dann unentwegt auf einem schwankenden aber immer hohen Niveau an, das erst in den letzten Jahren der Erschwerungspolitik wieder auf ungefähr 20.000 im Jahr herabgesunken ist.
Diese Immigration von vier bis fünf Millionen Weißen in den letzten fünfzig Jahren hat einen ungeheuren Energieeinschuß für Brasilien bedeutet und gleichzeitig einen gewaltigen kulturellen und ethnologischen Gewinn gebracht. Die brasilianische Rasse, die durch einen dreihundertjährigen Negerimport in der Hautfarbe immer dunkler, immer afrikanischer zu werden drohte, hellt sich sichtbar wieder auf, und das europäische Element steigert im Gegensatz zu den primitiv herangewachsenen, analphabetischen Sklaven das allgemeine Zivilisationsniveau. Der Italiener, der Deutsche, der Slawe, der Japaner bringt aus seiner Heimat einerseits eine völlig ungebrochene Arbeitskraft und Arbeitswilligkeit, anderseits Forderung eines höheren Lebensstandards mit. Er kann lesen und schreiben, er ist technisch geschult, er arbeitet in rascherem Rhythmus als die Generation, die durch Sklavenarbeit verwöhnt und vielfach durch das Klima in ihrem Leistungsvermögen geschwächt ist. Instinktiv suchen die Einwanderer überall jene Gegenden, die sie dem heimischen Klima und den alten Lebensformen ähnlich finden, und so sind es vor allem die südlichen Provinzen von Rio Grande do Sul, Santa Catarina, die von diesem neuen Zyklus des »lebendigen Goldes« belebt werden. Der Zyklus der Immigration bedeutet für die Städte und das Gebiet von São Paulo, Porto Alegre und Santa Catarina, was einst der Zucker für Bahia, das Gold für Minas Gerais, der Kaffee für Santos gewesen: den entscheidenden Anschwung, der dann aus weiterwirkender Kraft Wohnstätten, Arbeitsmöglichkeiten, Industrien und Kulturwerte schafft. Und gerade weil dies neue Material aus den verschiedensten Zonen der Welt stammt – Italiener, Deutsche, Slaven, Japaner, Armenier – kann Brasilien seine alte Kunst der Mischung und gegenseitigen Anpassung auf das glücklichste bewähren. Mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit ordnen sich dank der besonderen assimilatorischen Kraft dieses Landes die neuen Elemente ein, und die nächste Generation wirkt schon selbstverständlich und gleichberechtigt mit an dem alten Ideal des Anfangs: einer in einer einzigen Sprache und Denkweise verbundenen Nation.
Dieser Aufschwung, den die Immigration der letzten fünfzig Jahre bewirkt hat, ist der eigentliche Dank für die moralische Tat der Sklavenbefreiung. Der Einschuß von vier oder fünf Millionen Europäern um die Jahrhundertwende stellt einen der größten Glücksfälle in der
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