Eisrosensommer - Die Arena-Thriller
Prolog
21.15 h
Die letzten Schüler verlassen den Seitentrakt des Humboldt-Gymnasiums.
Im Innern des Gebäudes entsorgt Lennart Peters (18) ein gebrauchtes Tempotaschentuch im Papierkorb, klaubt einen heruntergefallenen und dann offenbar vergessenen Kugelschreiber vom Boden auf, testet ihn auf der Rückseite einer zerknüllten Busfahrkarte auf seine Funktionstüchtigkeit und steckt ihn ein.
Draußen auf dem Oberstufenhof wird es still. Es beginnt zu schneien.
Lennart Peters wirft einen flüchtigen Blick auf sein Handy.
21.18 h
Er stapelt die Stühle aufeinander, schiebt sie in die Ecke und schließt den Oberstufenraum ab.
Als er im Begriff ist, auch die Außentür abzuschließen, bemerkt er, dass er seinen Schal an der Garderobe hängen gelassen hat.
Er geht zurück. Den Schlüssel lässt er stecken.
21.23 h
Lennart Peters verlässt erneut das Schulgebäude. Als der Schlüssel nicht im Schloss steckt, durchsucht er irritiert die Taschen seines Parkas, dann die Außenfächer seines Rucksacks.
21.25 h
Auf dem Parkplatz heult ein Motor auf.
Lennart Peters schrickt zusammen und läuft auf seinen Wagen zu.
Offenbar hat sich jemand einen Scherz erlaubt.
»Hey! Was soll das?!«
Er versucht, die Gestalt hinter dem Steuer zu erkennen.
Scheinwerfer blenden auf.
Lennart Peters reißt den Arm hoch, um sich vor dem gleißenden Licht zu schützen.
»Mensch, hört auf mit dem Quatsch!«
Der Wagen setzt zurück, wendet, rast auf die Umfriedungsmauer des Sportbereichs zu und schrammt kreischend daran entlang.
Dann wendet er erneut und bleibt stehen.
Lennart Peters beginnt zu rennen.
»Seid ihr wahnsinnig geworden oder was?!«
Er nestelt sein Handy aus der Tasche und hält es demonstrativ hoch.
»Wenn ihr nicht sofort damit aufhört, ruf ich die Polizei!«
Der Motor heult im Stand erneut auf.
Als Lennart Peters bis auf wenige Meter an den Wagen herangekommen ist, tritt der Unbekannte hinter dem Steuer das Gaspedal durch. Lennart Peters wird vom linken Kotflügel gestreift und auf den Asphalt geschleudert.
21.28 h
Er liegt bewusstlos am Boden. Aus seiner aufgerissenen Lippe sickert Blut.
Als er wieder zu sich kommt, steht sein Wagen mit geöffneter Fahrertür mitten auf dem Parkplatz.
Lennart Peters richtet sich benommen auf.
In der Ferne hört er schwach das Geräusch eines sich entfernenden Mofas.
Sein Handy ist verschwunden.
Knapp drei Monate später gelangt der «Fall Lennart Peters« auf den Tisch des Teen-Court Leipzig: ein fünfköpfiges Richterteam aus Schülerinnen und Schülern verschiedener Schulen, unter Supervision von Fabian Schmücke, Sozialarbeiter (27).
Keiner der Anwesenden ahnt, dass ihr Urteil den sprichwörtlichen Schneeball auslösen wird, der auf dem Weg zum Tal zur tödlichen Lawine anwächst, die alles mit sich reißt und zerstört.
1
Der Optiker drehte und wendete das Gestell in den Händen und schüttelte ungläubig den Kopf. »Und Sie wollen diese Monstrosität tatsächlich freiwillig im Gesicht spazieren tragen?«
»Ja, will ich.«
Pia Canisius schob energisch das Kinn vor und schickte einen – wie sie hoffte – eiskalt entschlossenen Blick über die Verkaufstheke. Als ungefärbte, echte, wirkliche und wahrhaftige Blondine hatte man’s nicht leicht mit eiskalt entschlossenen Blicken; zumal, wenn – wie in Pias Fall – noch himmelblaue Augen und ein Porzellanteint dazukamen, und gut zehn Zentimeter an einer wenigstens ansatzweise imponierenden Körpergröße fehlten.
»Freu dich doch«, pflegte ihre Schwester Nele – lang, schlaksig, rothaarig und sommersprossig – zu sagen. »Ist doch Gold wert! Die Kombi weckt bei Männern sozusagen automatisch Beschützerinstinkte!«
Aber Pia wollte nicht beschützt werden! Pia hatte es gründlich satt, von ihrer Schwester wie ein Kind behandelt und von ihren Eltern trotz ihrer beinahe achtzehn Jahre immer noch »Mäuschen« gerufen zu werden.
Der Optiker tappte ungeduldig mit dem Brillengestell auf seine Handfläche. »Wir hätten da was im Angebot, das Ihnen bestimmt eher …«
»Nein, danke.«
Pia starrte den jungen Mann so durchdringend an, wie sie nur konnte.
Ob man auch mit Brille Leute hypnotisieren kann?
Dass sie neuerdings eine – wie die Ärztin es genannt hatte – »Sehhilfe« brauchte, empfand sie beinahe als persönliche Niederlage. Aber Kontaktlinsen, wie Nele sie trug, waren ihr viel zu umständlich. Und so hatte sie nach der Devise »Wenn schon, denn schon!« ein riesengroßes, dunkelblaues
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