Stefan Zweig - Gesammelte Werke
Geschichte Brasiliens dar und zwar einen doppelten Glücksfall. Einen doppelten Glücksfall erstens, weil diese starken, gesunden Kräfte so reich und so quellend ins Land kommen, und zweitens, daß ihr Kommen gerade im richtigen historischen Moment einsetzt. Wäre eine Immigration solchen Umfangs, wären solche Millionenmassen von Italienern und Deutschen ein Jahrhundert früher eingeströmt, da die portugiesische Kultur nur eine dünne Schicht bedeckte, so hätten diese fremden Sprachen und Eigensitten einzelne Provinzen besetzt und ergriffen, große Teile des Landes hätten sich endgültig italianisiert oder verdeutscht. Hätte anderseits die Hauptimmigration, die Massenzuwanderung sich nicht in dieser noch kosmopolitisch gesinnten Epoche, sondern in unserer Zeit des überreizten Nationalismus vollzogen, so wären die einzelnen nicht mehr gewillt gewesen, sich in eine neue Sprachform und Denkform aufzulösen. Sie wären starr und widerstrebend an die Ideologie ihrer Länder gebunden geblieben und nicht an die Idee ihres neuen Landes. So wie das Gold nicht zu früh entdeckt wurde und nicht zu spät, um Brasiliens Wirtschaft zu fördern und doch nicht seine Einheit zu gefährden, so wie der rettende Zyklus des Kaffees gerade im Augenblicke des katastrophalsten Rückschlages einsetzte, so hat sich die europäische Massenimmigration gerade in dem Augenblick ereignet, wo sie am fruchtbarsten sich auswirken konnte. Statt das Brasilianische in Brasilien zu verfremden, hat dieser mächtige Einschuß das Brasilianische nur noch stärker, vielfältiger und persönlicher gemacht.
Auch im zwanzigsten Jahrhundert erfüllt sich somit wiederum das gleichsam eingeborene Gesetz, daß Brasilien immer Krisen benötigt, um seine Wirtschaft zu energischer Umstellung zu erziehen. Diesmal sind es zu seinem Glück nicht mehr Krisen im eigenen Land, sondern die beiden Katastrophen jenseits des Ozeans, die beiden großen europäischen Kriege, die seiner ökonomischen Schichtung entscheidende Impulse geben. Der Erste Weltkrieg offenbart Brasilien die Gefahr, beinahe seine ganze Exportproduktion an ein einziges Rohstoffprodukt entscheidend gebunden und anderseits seine Industrien nicht in ihrer ganzen Vielfalt ausgebaut zu haben. Der Kaffee-Export stockt; damit ist die Hauptschlagader plötzlich abgebunden, ganze Provinzen wissen nicht mehr, wohin mit ihren Kolonialprodukten, anderseits können viele Fertigprodukte des täglichen Bedarfs bei der Unsicherheit der Meere und der Kriegsbelastung Europas nicht mehr eingeführt werden. Weil es allzu einseitig, allzu sorglos und ohne auf das innere Gleichgewicht zu achten, auf den Absatz seiner Milliarden Kaffeebohnen die ganze Handelsbilanz aufgebaut, beginnt diese gefährlich zu wanken, und dies zwingt Brasilien, sich umzustellen und wenigstens einigen dieser industriellen Unternehmungen sich zuzuwenden. Einmal eingesetzt, wirkt sich dieser Impuls kräftig aus; während all der Jahre, da das unselige Europa durch Kriegsangst und Kriegsvorbereitungen ständig gehemmt ist, werden nun eine Anzahl maschineller und handwerklicher Artikel, die vorher von Europa bezogen werden mußten, im Lande selbst hergestellt und eine gewisse Autarkie vorbereitet. Wer dann nach einigen Jahren Abwesenheit wieder nach Brasilien kam, war erstaunt zu sehen, wieviele vormals ausländische Artikel schon durch inländische ersetzt worden waren, wie unabhängig auch sich in den organisatorischen Maßnahmen das Land von fremden Instruktoren und Direktoren in so kurzer Frist zu machen wußte. Dank dieser Vorbereitung traf der Zweite Weltkrieg die brasilianische Wirtschaft nicht mehr so frontal wie der Erste. Auch diesmal war ein Preissturz des Kaffees und vieler anderer Kolonialprodukte unvermeidlich; aber der neuerliche Abbruch der Kaffeekonjunktur verödete nicht São Paulo, wie einstens das Aufhören des Goldes die Städte von Minas Gerais und die Gummikatastrophe Manaus. Schon hatte die Wirtschaft die Weisheit des alten englischen Sprichworts gelernt, daß man nicht alle Eier in einem einzigen Korb tragen solle, und sich auf eine solidere Basis gestellt als den eines einzigen, allen Weltmarktschwankungen unterworfenen Monopol- oder Zentralartikels. Das Gleichgewicht blieb erhalten, weil der Verlust auf der einen Linie kompensiert werden konnte durch die scharf ansteigende Konjunktur der Industrie, die ein Großteil dessen, was sie vordem aus Deutschland und den anderen abgesperrten Ländern beziehen mußte, nun im
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