Stefan Zweig - Gesammelte Werke
vergleichbar zu sein, ist mit São Bento seinen Künstlern doch etwas Einmaliges gelungen: eine glückliche und neuartige Bewältigung der Materie, eine vollkommene Harmonie in dieser goldenen Dämmerung, die man nicht mehr vergißt. Und dieses wohltuend Maßvolle waltet dann auch im Kloster vor, in seinen weiten, steingepflasterten Gängen, den schweren schwarzen Holztüren, der schön proportionierten Bibliothek, dem abgeschiedenen Klosterhof, und man geht durch diese kühlen, von dicken Wänden gegen Lärm und Laut geschützten Gänge wie durch eine andere Zeit. Man hat vergessen, daß man in einer südlichen Welt ist jenseits des Äquators und unter anderen Sternen. Man könnte glauben in einem schweizer oder deutschen Benediktinerkloster, diesen uralten Refugien der Bücherfreunde, vor sich hin zu träumen. Da plötzlich an einem Fenster erinnert einen der Blick auf herrlichste Weise, wo man sich befindet: mit seinen Wolkenkratzern und Palais, mit seinen überfüllten Straßen dehnt sich in weitem Umkreis das Häusergewirr einer modernen Metropole unter der grünen Wacht seiner Berge. In der Tiefe dehnt sich die Bucht mit ihren Schiffen und Inseln und funkelt das tropische Meer; wie überall erlebt man in Rio an allen Stellen und auch den abgesondertsten und einsamsten diese unvergleichliche Zwiefalt von Stadt und Landschaft, von Zeitlichem und Zeitlosigkeit.
Dieses eine Kloster und noch das zweite auf dem andern Hügel von Santo Antônio hat sich Rio gerettet von seiner Vergangenheit. Es ist sein Adelsbrief, bezeugend das Alter und die Vornehmheit seiner Kultur. Mag alles Kleinliche und Ärmliche der Kolonialzeit auch weiter verfallen und verschwinden, mag die Stadt in ihrer Ungeduld sich von Jahr zu Jahr verändern, dieser goldene Schimmer durchleuchtet die Zeit.
Spazieren durch die Stadt
J eder Weg beginnt hier an der Avenida Rio Branco. Sie ist – oder vielmehr, sie war – der Stolz der Stadt. Vor etwa vierzig Jahren kam der Ehrgeiz über Rio, es den europäischen Großstädten gleichzutun und einen Boulevard, eine repräsentative Hauptstraße im Herzen der Stadt zu haben. Und da sie wie alle Städte des Südens davon träumte, ein Paris zu werden, verlockte das Vorbild des Boulevard Haussmann, den der große Präfekt mit kühnem, breitem Strich geometrisch gerade durch das frühere Gewirr verschachtelter alter Gassen gezogen, zur Nachahmung. Der Plan dieser Prunkavenida aber glaubte schon verwegen zu sein, wenn er sich das Maß von den europäischen Boulevards borgte und die Straßenbreite mit dreiunddreißig Metern ansetzte. Die Brasilianer der älteren Generation, die bodenständigen cariocas , an ihre engen schattigen kolonialen Durchlässe gewöhnt, schüttelten zwar die Köpfe und erklärten diese übermäßige Breite als allzu verwegen. Aber der Plan setzte sich durch. Man stellte an den Eingang der Avenida ein prächtiges und sehr pariserisches Opernhaus, die Nationalbibliothek, das Museum, das damalige Luxushotel, um von vornherein die neue Straße als den geistigen und kulturellen Mittelpunkt zu kennzeichnen, man wagte sogar sechsstöckige Häuser, die hochmütig über die niederen Dächer der bisherigen Palêcios und Palacetes herabblickten. Die breiten Trottoirs wurden mit schwarzweißem Mosaik auf das schönste geschmückt, die Fahrbahn asphaltiert, die Geschäftshäuser und Klubs beeilten sich, die breite schöne Front in der damals modernsten Architektur zu flankieren. Es wurde in der Tat eine prächtige Straße, und mit Stolz konnten die Brasilianer sich sagen, daß sie den berühmten Boulevards Europas würdig an die Seite zu stellen sei.
Aber es erweist sich in Amerika, diesem mit ganz anderer Vehemenz aufstrebenden Kontinent, immer als Fehler und verhängnisvolle Bescheidenheit, in europäischen Maßen zu denken und zu rechnen. Zeit und Raum haben jenseits des Ozeans ein anderes dynamisches Maß. Hier entwickeln sich alle Dinge geschwinder, um freilich auch rascher zu veralten. Und so ist durch das tropische Wachstum Rios und den phantastisch sich entwickelnden Verkehr schon heute die Avenida Rio Branco längst zu eng, zu schmal geworden, ständig verstopft durch die Prozession der Autos, die nur im Schritt sich vorwärts bewegen können, donnernd von Lärm, überfüllt von Menschen und überdies noch rechts und links zurückgepreßt in ihrem Strombett durch die vorgeschobenen Planken der ständigen Umbauten. Denn schon scheinen die Prachtbauten von 1910 hier nicht mehr prächtig und
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