Stefan Zweig - Gesammelte Werke
wie sie einen empfängt, weiß sie einen zu halten; von der Stunde der Einfahrt an weiß man schon, das Auge wird nicht müde werden und der Sinn nicht satt an dieser einzigartigen Stadt.
Kürzer, aber vielleicht noch verwirrender ist der Eindruck, wenn man mit dem Flugzeug ankommt. Da überschaut man zum ersten Male die wirkliche Anlage der Stadt – wie sie hingebettet ist an den Rand der Berge, die sie bewachen, wie sie gleichsam sich auflöst in die Landschaft. Man schwingt über Berge und Berge herab, und plötzlich sieht man die Weite dieser Bucht, die in ihrer riesigen blauen Schale diese weiße Perle einschließt. Man sieht die scharfen, wie mit dem Messer gezogenen Diagonalen der Avenidas, die sie durchschneiden, den blinkenden Strand, nicht breiter wie das Weiße, das eine goldfarbene Orange umschließt, und dann weit ins Land hinein sich ergießend die hellen Kiesel der Villen und Häuser, und all dies abgezeichnet gegen ein doppeltes Blau, den stahlblanken Azur und das Wasser, das ihn spiegelt. Und dann scheinen die Berge, da das Flugzeug die Kurve nimmt, plötzlich zu verschwinden, jetzt ist es die Stadt, die mit ihren weißen Häusern als eine einzige steinerne Wand einen grüßt, und schon sieht man das schwirrende Band der Autos an den Strandstraßen, die Badenden im Meer, man spürt das Leben, das einen erwartet, die Farben, die einem entgegenglühen. Und noch einmal, zweimal, dreimal schwingt sich das Flugzeug niederer und niederer, daß es beinahe das Dach von São Bento streift. Und dann knirschen die Räder, man ist auf flachem Boden, auf der schönsten Erde der Welt.
Das alte Rio
U m eine Stadt, um ein Kunstwerk, um einen Menschen wirklich zu verstehen, muß man ihre Vergangenheit, ihre Lebensgeschichte, ihre Entwicklung kennen. So geht mein erster Weg in jeder neuen Stadt zunächst zu den Fundamenten, auf denen sie sich erbaut hat, um ihr Heute aus dem Gestern zu begreifen. Nichts natürlicher, als daß ich in Rio zunächst den Morro do Castelo, den historischen Hügel suchte, wo sich vor vierhundert Jahren die Franzosen verschanzt hatten, und auf dem die siegreich stürmenden Portugiesen dann den eigentlichen Grundstein ihrer Stadt gelegt. Aber vergebens die Suche. Der historische Hügel ist abgeräumt. Kein Stein, keine Scholle Erde ist mehr davon zu finden. Das Terrain ist längst nivelliert, und breite Straßen erheben sich auf dem abgeflachten Boden. Merkwürdiges Phänomen. Das alte Rio ist verschwunden und das neue steht auf einem völlig anderen Grund als die Stadt des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts. Wo heute die asphaltierten Straßen laufen, war ursprünglich nur Sumpf gewesen, von kleinen Flußläufen durchzogen, ungesund und unbewohnbar, und die ersten Ansiedler hatten sich auf die Hügel hinaufgerettet. Erst allmählich konnte Terrain dem Sumpf und dem Meer abgewonnen werden, indem man das Land zwischen den Hügeln austrocknete, die Flußläufe zuschüttete oder kanalisierte und gleichzeitig durch Aufschüttung die Ufer immer weiter in die Bucht hineinschob. Dann wiederum fielen die Hügel, die den Verkehr hemmten. So hat sich in dreihundert Jahren die Stadt eigentlich völlig umgestülpt, und alles oder fast alles Historische ist dieser ungeduldigen Verwandlung zum Opfer gefallen.
Es ist kein großer Verlust, denn im sechzehnten, im siebzehnten und weit bis ins achtzehnte Jahrhundert war Bahia die Hauptstadt Brasiliens und Rio zu arm, zu gering für Kunstbauten und prunkvolle Paläste. Selbst als zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts der portugiesische Hof hier seine Residenz aufschlug, fanden die unfreiwilligen Gäste keine würdige Unterkunft. So reicht alles Historische bestenfalls in die Kolonialzeit zurück, und ein Haus von hundertfünfzig Jahren genießt hier schon im Gegensatz zu Bahia die Reverenz der Ehrwürdigkeit. Von dieser kolonialen Zeit, ihrem Stil und ihren Lebensformen bekommt man am besten ein Bild in den wenigen in ihrer Echtheit noch unveränderten Gassen um die Alfândega in Rio. Sie sind noch typisch portugiesisch und wirken angenehm in ihrer anspruchslosen Bescheidenheit. Einstöckig und zweistöckig, einstmals wohl bunt getüncht, haben sie keine andere Zier als das schön gehämmerte eiserne Spitzenwerk der Balkone; zurückgesunken nach einstiger Vornehmheit dienen sie ausschließlich mehr den kleinen Geschäften. Zu ebener Erde stehen die Läden, die Armazéns mit ihren Warenlagern offen, man blickt frei auf die aufgestapelte Ware, und
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