Steile Welt (German Edition)
den Alpe.
Wenn die hiesigen Kinder, Gämsen gleich, über die abschüssigen Wiesen hüpfen und sich nach Wildblumen bücken, so ist der Stadtmensch geneigt wegzuschauen und höhere Mächte anzurufen, keines möge über die Felswand stürzen. Radfahren, Fuss ballspielen oder Federball, die einzige ebene Fläche ist der Parkplatz am Rande des Dorfes. Jeder Fehlpass führt zum Verlust des Balls, jede weiterführende Bewegung wird gebremst durch den Abgrund oder Anstieg.
«Wir hatten keine Spielsachen. Aber wir spielten den ganzen Tag, meistens draussen, beim alten Haus oben. Das gehörte denen von der Post. Die hatten fünf Kinder. Wir waren zehn. Zuerst wohnten wir unterhalb der Strasse. Ich war das zweite Kind. Vier wurden da geboren, dann zogen wir ins andere Haus hinauf. Es wurde zu eng für uns da unten. Das Haus, in dem ich dann aufgewachsen bin, verfällt nun langsam. Es gehörte nicht uns und war auch nicht zu kaufen. Deshalb hatten wir es auch nicht länger in Stand gehalten, als meine Mutter letztlich auszog. Das Dach haben sie noch gemacht vor ein paar Jahren, aber jetzt wohnt schon lange niemand mehr in dem Haus. Sechs weitere Kinder kamen dann da auf die Welt. Der Kleinste starb aber bereits mit zwei Monaten. An Lungenentzündung. Er wurde am sechsten Dezember geboren und starb Mitte Februar. In jenem Jahr gab es so viel Schnee. Drei Meter hoch. Der Dottore konnte nicht kommen.
In jenem Winter konnten wir auch ein paar Wochen nicht mehr zur Schule gehen. Da freuten wir uns natürlich darüber. Es war zu gefährlich wegen der Lawinen. Soldaten kamen ins Dorf, um die eingestürzte Brücke zu reparieren. Sie bauten eine provisorische Holzbrücke. Diese blieb dann zehn Jahre stehen, bis eine richtige gebaut wurde. Am Abend schlichen wir uns immer zu den Soldaten. Sie gaben uns Schokolade und Biskuits. Uns, die wir doch nichts Süsses kannten. Der Vater musste uns dann holen kommen, weil wir ins Bett mussten.»
Die verblühten Rosen werden abgezwackt. Dieses Jahr waren sie ihr keine rechte Freude, der seit Jahren so leidenschaftlichen Gärtnerin. Sie sind braun geworden, kaum dass die Knospen sich geöffnet hatten. Überhaupt der steile Garten hinter dem Haus. Ist so schlecht in Schuss wie lange nicht. Das operierte Knie lässt die Arbeit am Hang nicht zu. Wo bis vor ein, zwei Jahren das zweite Haus rechts am Dorfeingang, die ehemalige Poststelle, die Ankömmlinge mit einer ungeheuren Farbenpracht begrüsst hat, sind die Balkone nun ohne Blumenkästen. Noch sorgen die wenigen Blumen hinter dem Haus für Fröhlichkeit, drei Tomatenstöcke für ein Minimum an eigenem Gemüse. Gemäht wird, wenn es gar nicht mehr anders geht. Das war vor zwei Tagen. Jetzt sind die schmalen Terrassen sauber, und die Hände schmerzen. Die Gelenke sind dick und aus der Form. Dennoch liebevoll und beinahe zärtlich zu allem, was sie anfassen. Seien es die Köpfe der Blumen oder der Bauch des kleinen schwarzen Katers, der sich in der Sonne räkelt. Hinter dem ungenutzten Treibhaus setzt man sich auf die Bank. Der Pflaumenbaum wirft Schatten.
«Vom Haus oben am Berg bis zu uns hinab standen keine Bäume. Wir rutschten den Hang hinunter, sogar im Sommer, auf dem Hosenboden oder wir Mädchen auf Säcken. Einmal war ich im Winter mit dem Schlitten im Bachbett gelandet. Und was gab es, statt mich zu fragen, ob ich mir weh getan hätte? Eine Ohrfeige. Den Schlitten hatten wir von jemandem geschenkt bekommen. Wir hatten ja sonst eigentlich kein Spielzeug. Mit diesem fuhren wir auch von der Schule heim, wenn die Strasse verschneit war. Unterhalb der Strasse durften wir nicht schlitteln, dort ist es zu steil, das war verboten. Dieser Gefahr zum Trotz mussten wir alle immer mittwochs und samstags zusammen mit der Mutter den abschüssigen Pfad zum Fluss runtersteigen, um Holz zu holen. Es war ja nicht so wie jetzt, wo man sich bloss zu bücken braucht und schon hat man einen Armvoll Holz gesammelt. Wir mussten Schwemmholz holen für den Ofen. Wie oft bat ich meine Mutter, die Kleinsten zu Hause zu lassen, weil es gefährlich war, sich dort hinunter zu begeben. Aber alle mussten wir mitgehen und mit der Hutte das Brennholz hochtragen. Da gab es kein Pardon. Auch das Wasser mussten wir heimtragen vom Brunnen. Eimer um Eimer schleppen, vor allem wenn es ums Baden ging. Im Winter war die Leitung zugefroren. Dann musste man sie erst mit Feuer erwärmen. Dann drückten sich alle, wenn es ums Wasserholen ging. Das WC war ausserhalb des Hauses.
Weitere Kostenlose Bücher