Steile Welt (German Edition)
ich vergass mich oft, und ich lachte viel, manchmal in den dümmsten Momenten, wenn es gar nicht passte. Ich konnte gar nichts dagegen machen. Als meine Schwester unter die Lawine kam, musste ich so lachen, dass ich dem Vater nicht einmal antworten konnte, als er mich fragte, wo sie sei. Ich konnte nur nicken, als er endlich fragte, ob sie da unten verschüttet wäre. Da hat er sie ausgegraben. Zum Glück war ihr nichts passiert.
Einmal, als eine alte Frau starb hier im Dorf und der Sarg mit dem Leichenwagen ins obere Dorf gefahren wurde, stolperte einer der Männer, die den Karren zogen, über einen Stein. Er strauchelte, und das brachte mich wieder so zum Lachen, dass mir die Tränen kamen. Ich hatte ganz rote Augen bekommen, sodass meine Mutter gefragt wurde, ob ich denn diese Frau so gut gekannt hätte, dass ich derart weinen müsste. Was konnte meine Mutter anderes sagen, als dies zu bejahen. Sie war ja froh, dass niemand bemerkt hatte, dass ich so lachen musste, den ganzen Weg bis ins obere Dorf.
Von meinen Geschwistern wohnen heute nur noch zwei Brüder hier im Tal. Unser Haus war kein grosses. Wir schliefen alle Kinder mit Mutter und Vater zusammen im selben Zimmer. In den schmalen Betten immer zwei Kinder, mit den Köpfen an den unterschiedlichen Enden. Das gab dann ein Gerangel mit den Füssen. Zwischen Vater und Mutter im grossen Bett lagen zwei weitere Kinder und das Kleinste in der Wiege neben einem unserer Betten. Wer am nächsten war, musste die Wiege schaukeln, wenn das Kindlein schrie. Manchmal wurde man dann wütend, wenn man in der Nacht immer und immer wieder geweckt wurde, und stiess die Wiege ein bisschen zu fest an. Der Vater musste sie ein paar Mal flicken.
In der engen Küche stand ein riesiger Tisch, wo alle Platz fanden zum Essen. Am Abend gab es etwas Warmes. Polenta oder Kartoffeln, was halt grad da war. Wir hatten nicht viel Abwechslung.
Der Vater arbeitete im Kanton Waadt. Er war Lastwagenfahrer. Als sein Bruder mit zweiundzwanzig Jahren starb, wollte seine Mutter ihre anderen Söhne unbedingt in ihrer Nähe haben. Also kam er ins Tal zurück, wo er aber natürlich keine so gute und vor allem so gut bezahlte Arbeit fand. Er verdiente fast nichts mehr. Und damit zehn Kinder zu ernähren, war schwierig. Wir lernten, uns auf das Wesentliche zu beschränken, füreinander da zu sein und zu teilen.»
Besuch ist immer willkommen. Hilfe wird angenommen, aber auch angeboten. Ein grosses Herz, das nicht rechnet, das sich öffnet, auch der Fremden gegenüber. Man will das Gegenüber kennenlernen, ist neugierig, aber nicht aufdringlich. Selber zeigt man all seine Seiten, braucht nicht etwas vorzuspielen, was man nicht ist und nicht hat. Hauptsache man hat es warm, vor allem inwendig. Äusserlichkeiten spielen keine Rolle, nicht im oder ums Haus. Da schämt man sich nicht der Pyjamahose am späten Morgen. Die Welt ist auch so schon kompliziert genug. Die Einfachheit hat sich bisher gut bewährt. Die und die Familie. Diese Verbundenheit bleibt bestehen über jede Distanz. Sogar bis über den Tod hinaus.
«Mit meinem Lieblingsbruder zusammen, der ist bereits gestorben, trieb ich am meisten Unfug. Richtige Dummheiten. Wir verschreckten beispielsweise gerne die Kleinen, erzählten ihnen vor dem Einschlafen Schauergeschichten, bis wir selber nicht mehr schlafen konnten.
In unserem früheren Haus, aus dem wir dann ausgezogen sind, lebte lange Zeit niemand mehr, und wir konnten dort reingehen und spielen. Die Fensterscheiben waren eingeschlagen. Wir zwei waren drinnen, ein anderer, der kleinste Bruder, draussen. Er hielt den Arm zum Fenster rein. Wir beide wollten ihn am Hereinkommen hindern und schlugen die Hand fort. So stiess er ans Glas, und ein grosser Splitter durchdrang seinen Arm, ging auf der einen Seite rein, auf der anderen kam er wieder raus. Da bin ich gerannt bis ins obere Dorf und rief Vater, Vater komm schnell, der Kleine will sterben. Schnell war mein Vater unten. Für mich gab es Schelte. Aber wie sollte ich wissen, was da genau passiert war? Ich hatte doch nur noch Blut gesehen. Ein andermal spannten wir ein Seil den Hang hinunter. Hängten Rollen dran und ein Brett. Und wieder der Kleine, stand drunter, und das Brett traf ihn mit voller Wucht am Hinterkopf. Das gab ein Riesenloch. Schnell kam eine alte Frau, die das gesehen hatte, mit einer Flasche Essig zum Desinfizieren gesprungen und schüttete ihm diesen über den Kopf. Das gab ein Geschrei. Aber das war die beste Methode.
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