Steile Welt (German Edition)
Postauto. An Weihnachten hatten alle Ferien. Nur ich nicht. Weil ich neu war. Ich hatte den Auftrag zu putzen, während alle anderen weg waren. An meinem freien halben Tag kam ich also wieder hier oben an. Mein Vater half mir dann, indem er bei meiner Arbeitsstelle anrief und denen sagte, ich wäre krank geworden. So konnte ich wenigstens über die Feiertage eine Woche bei meiner Familie sein. Obwohl es mir gefiel an meiner ersten Arbeitsstelle. Dort blieb ich zwei Jahre. Danach arbeitete ich zwei Jahre lang in einem Kinderheim, dann drei Jahre in einer Familie. Als mein Verlobter in die Deutschschweiz zog, bin ich mit ihm gegangen, und wir haben geheiratet und dort gelebt. Ich sehnte mich dort immer nach dem Tal. Als wir wieder hier waren, hatte ich Heimweh nach Zürich. Irgendwie hatte ich die Heimat verloren, wusste nicht mehr, wo ich hingehörte. Ob ich in der Welt meiner Kindheit daheim war oder in meiner Erwachsenenwelt. Das frage ich mich manchmal heute noch. Auf jeden Fall erinnere ich mich immer noch gern an die vergangene Zeit.
Es fehlte mir in meiner Kindheit an nichts hier, wenn es auch an vielem fehlte. Im Gegenteil. Es war eine gute Zeit. Von der Zeit, ja, davon gab es immer genug. Und gibt es immer noch. Manchmal wird sie einem sogar ein wenig lang hier. Für die wichtigen Dinge, da nimmt man sie sich immer, die Zeit. Für andere zum Beispiel. Da sage ich nie, ich hätte keine Zeit. Denn wer weiss, wie lange sie einem noch zur Verfügung steht. Das Leben dauert ja nicht ewig.»
sciagrignoo
Leichter Regen nieselt in den grauen Morgen. Der Himmel hängt manchmal tief im Tal. Der Schwarm Dohlen lässt sich vom Nussbaum auf die Hausdächer fallen, wie Fetzen verbrannten Papiers in einer Windböe.
Nachts um zwei haben sie einen Fuchs geschossen, wird erzählt. Den siebten in diesem Jahr. Die Pelze hängen später auf dem Balkon, auch ein Dachs ist dabei. Im Ristorante weiter oben, am Fenstergitter, sogar ein Wolfspelz.
Ein kleiner Vogel an nasser Felswand. Schwarz und weiss, untermalt mit einem leuchtenden Rot. In Ermangelung ornithologischer Kenntnisse wird er Bergfink genannt. Ein Vogelbuch ist anzuschaffen, dazu ein Feldstecher.
Der abendliche Schrei fährt durch Mark und Bein. Hinter dem Haus oben am Berg. Eine Katze, die um ihr letztes Leben schreit? Dafür ist es zu laut. Wieder und wieder, als ginge es um Leben und Tod. Il cervo , sagt man mir. Der Hirsch in der Brunft schreit, als stürbe ein Mensch. Genau so. Beim untersten Haus wird er später gesehen, wie er die Strasse quert. Springt weiter, den Berg hoch, und die Signora hält ihn erst für eine Kuh, so mächtig ist er.
Auf der sommerlichen Wanderung eine Gämse auf einem Felsvorsprung. So nah, als wäre es eine Ziege. Nur im gestreiften Kopf zeigt sie ihr wahres Gesicht. Die zweite camoscia später im Jahr auf des Jägers Rücken, wie sie an der Terrasse vorbeigetragen wird. Ihr Kopf schaukelt glasigen Blicks auf seiner Schulter.
Auf dem Weg zum hintersten Dorfladen eine Kolonne Ziegen im Dunstkreis eines Bocks. Er ist über weite Strecken zu riechen, noch hinter der vorletzten Kurve. Auch auf den Wanderungen immer wieder Herden, welche den Berggänger mit einem Gemisch aus unverhohlener Neugier und gespieltem Desinteresse mustern. Vereinzelt weiden sogar Kühe auf den Monti.
Wenn die Schafe und Ziegen um die Häuser ziehen, werden sie vertrieben. Zu gross der Schaden, den sie in den Gärten anrichten. Doch genau da scheinen die Kräuter am besten zu sein. Chiudi la cancella, mach das Gartentor zu. Eine der wichtigen Weisungen in den Dörfern. Wo ein Durchkommen ist, wird abgegrast. Und was abgegrast wird, wächst so schnell nicht mehr nach. Nicht mehr in diesem Jahr. Ganz abgesehen von den Schäden, die sie an den Mauern anrichten. Weil sie Schellen tragen, bleiben sie nicht unbemerkt. Mit lautem Geschrei und notfalls mit dem Gartenschlauch werden sie vertrieben.
Dreissig an der Zahl sind es allein an diesem frühen Morgen. Von Weiss über Crème- zu Eselfarben, Rehbraun mit dunklem Aalstrich bis zu tief Dunkelbraun ist jede Farbe vertreten. Muttertiere mit ihrem Jungvolk, manche gehörnt, begleitet von zwei behäbigen Böcken mit Riesenhörnern. Denen möchte man nicht zu nahe treten. Polternd fällt die Schar von allen Seiten her zwischen den Häusern die Steinwege entlang ins Dorf ein. Sie rupfen im Vorbeigehen hier und dort ein Blatt ab, sich dabei gegenseitig die Stirn bietend und sich auf die Seite schubsend, als gäbe es
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