Steile Welt (German Edition)
nicht genug für alle. Geschickt springen sie Stufen und Mauern hinab, gehen auf die Knie oder stehen auf die Hinterbeine, um die besten Stellen zu erreichen. Respektvoll halten sie Abstand, mit Erstaunen darüber in den Augen, dass sie nicht mit Händeklatschen in die Flucht geschlagen werden. Die frisch gezogenen Jungpflanzen behält man im Blick.
Die Ziegen ziehen der Bergflanke entlang weiter über die kleine Wiese zum Nachbargrundstück, wo sie dann, unten an der Strasse angekommen, dieser folgen bis zur nächsten Wiese. Nachzügler kommen nach etwa einer Viertelstunde. Sie sind in Eile und halten sich nicht lange auf. Schliesslich muss der Rückstand zur Herde wieder verringert werden.
Fritz the Cat kommt pünktlich. Morgens und abends fordert er sein Futter, nicht ohne einem zuvor eine Weile um die Beine zu streichen. Bei schlechtem Wetter pflegt er ab und zu etwas länger zu bleiben und sich auf dem Bett oben niederzulassen. Er ist überall und nirgends daheim. Geht von Haus zu Haus und merkt sofort, wenn wieder jemand neu angekommen ist. Eigentlich heisst er Bimbo, doch wer kann einen fetten, roten, stolzen Kater allen Ernstes Säugling nennen. Mäuse interessieren ihn nicht. Auch nicht die Siebenschläfer, die sich unter den Dächern und in Felshöhlen tummeln. Als die Strasse aufgerissen wird, finden die Arbeiter ihre Nester in der Felswand. Die kleinen Kerle liegen im Tiefschlaf zusammengerollt und aneinandergekuschelt und lassen sich verregnen. Ihre weichen Pelzchen sind vom Wasser durchnässt. Sie scheinen in ihren Träumen zu lächeln mit ihren langen Zähnen. Am Abend werden sie wieder versorgt, ohne etwas von den entzückten Blicken mitbekommen zu haben.
Nachts der Kauz, der gegen die Einsamkeit ankämpft und nach einem zweiten ruft. Der ganze Weltschmerz in der Klage der Esel von den weit entfernten Weiden. Immer klingen sie so traurig, so, als würden sie weinen.
«Gli asini sono fuori di testa. Sie sind für nichts gut. Gut, sie fressen das Gras, das sonst gemäht werden müsste. Niemand mäht mehr das Gras. Wozu auch. Es hat kaum mehr Tiere, für die man Heu braucht. Ein paar haben noch Ziegen oder Schafe, auch einige Kühe gibt es noch, aber sonst.
Wir hatten auch Ziegen. Alle hatten Ziegen. Die waren wichtig wegen der Milch und dem Käse. Manchmal wurde auch eine geschlachtet, dann gab es Fleisch. Das war selten. Zu Essen hatten wir sowieso nicht viel. Darum bin ich heute auch oft krank. Mein Mann, der im Unterland aufgewachsen ist, hatte so viel zu Essen wie wir alle sieben zusammen. Er ist ja auch in einer Metzgerfamilie aufgewachsen. Darum ist er immer gesund, hat keine Probleme mit den Knochen wie ich. Die spüre ich immer, wenn es so feucht ist wie jetzt. Es will gar nicht recht Sommer werden. Aber reden wir nicht übers Wetter. Davon wird zu viel gesprochen. Alle möchten gern das Wetter selber machen, nie ist man zufrieden damit. Die Leute würden sich schön in die Haare geraten, wenn sie auch dazu etwas zu sagen hätten, da wäre man wohl nie einer Meinung. Darum ist es schon gut, wenn dafür ein anderer zuständig ist.»
Auf dem Tisch mit der plastifizierten, leicht abzuwaschenden Spitzendecke liegt die Zeitung, aufgeschlagen bei der Wettervorhersage. Die Frau wirkt so klein, als wäre sie keine zehn Jahre alt, so adrett, als ginge sie sogleich in die Stadt. Mit Lippenstift und Perlenkette, die Kleidung immer assortiert und faltenlos, im Kontrast zum gezeichneten Gesicht. Darüber die sich lichtenden Haare in dauernde Wellen gelegt. Der Duft nach frisch gebügelter Wäsche steigt aus der Waschküche die Treppe ins zweite Stockwerk herauf, unterstreicht die angestrebte Sauberkeit. Blitzblank die Wohnküche, die Tischordnung ist geklärt. Am Morgen gibt es Kaffee aus dem schnellen Brüter, manchmal im Töpfchen aufgewärmt, wenn man zu spät kommt. Am Nachmittag Beuteltee, menta o verde, die Auswahl richtet sich nach dem Schrankinhalt. Das Wetter ist immer ein Einstieg, ebenso die Gesundheit.
«Wenn das Tal im Sommer in weissem Dunst verschwand, nannten wir dies nebbi d’agosto. Die Wälder lagen unter einem milchigen Schleier, und man schwitzte wie verrückt. Das Gras und auch die Wäsche, nichts wollte trocken werden. Früher war man natürlich viel abhängiger von der Witterung und den Jahreszeiten. Ein schlechter Sommer bedeutete wenig Heu und eine schlechte Ernte. Das zog dann einen schwierigen Winter nach sich, weil man vielleicht hungern musste.
Die Kinder waren häufig
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