Steile Welt (German Edition)
wie früher. Auch dort gibt es immer einiges zu tun. Früher ist man mit Sack und Pack und allem, was man den Sommer über nötig hatte, hinaufgestiegen. Auch die kleinen Kinder mussten selber zu Fuss gehen. Was für mich als grosse Schwester hiess, aufzupassen, dass keines stürzte und hinunterfiel. Diese Verantwortung war etwas Selbstverständliches. Da hat man sich keine Gedanken gemacht. Heute nehmen wir den Helikopter. Er bringt uns samt den ganzen Lebensmitteln und den Gasflaschen nach oben. Wir haben ja auch keine Tiere mehr, die auf den Berg getrieben werden müssen.
Im Herbst gingen die Männer auf die Jagd. Verkauften das Wild. Mein Bruder jagt immer noch. Die Felle werden verschenkt. Die werden heute auch nicht mehr gebraucht. Aber das Jagen ist beschwerlich im Alter und nicht ganz ungefährlich. Gut, er ist sieben Jahre jünger als ich.
Man musste früh weg von hier, um zu arbeiten. Ich ging in eine Familie nach Locarno. Heimweh? Natürlich war ich traurig, aber wozu? Man musste tun, was zu tun war. So ist das Leben. Der eine Bruder fand Arbeit bei einem Gemüsehändler, der andere bei einem Bäcker. Am Samstag kam er dann an mit einem Sack voll frischem Brot, das er im Dorf verteilte.
Er war noch ein Junge.
Man musste nehmen, was man bekam. Glücklich die, die vieles konnten. Aber man hatte auch seinen Stolz. Für fünfzig Rappen in der Stunde konnte man bei fremden Familien arbeiten. Hier im Tal, als wir noch Kinder waren. Das verbot unsere Mutter. Wir tragen nicht für andere Leute die Hutten herum, sagte sie.»
Die Erinnerungen sind klar, die Bilder deutlich, offensichtlich die Gefühle, die sie auslösen. Die Erregung verrät, was es noch alles zu sagen gäbe. Der Stolz bremst die Worte. Verbitterung wird spürbar. Unüberhörbar all die Klagen, die niemals laut werden, da man sonst die Würde los wäre. Scham wird überspielt, die weit zurückliegenden Demütigungen und die Armut werden als Makel empfunden.
Die Vergangenheit drückt schwer auf den Selbstwert, ist darum auch nicht wert, noch einmal heraufbeschworen zu werden. Sie schmerzt noch heute, auch wenn sie weit hinten, tief unten liegt. So bleiben die Gespräche immer ein vorsichtiges Herantasten an die alten Zeiten. Kurz nur werden sie gestreift, um sich sofort wieder in die Gegenwart zu retten. Denn jetzt hat man es zu etwas gebracht, zu etwas, das sich sehen lassen kann. Ein stolzes, mächtiges Haus oben am Hang. Alles aus eigener Kraft und mit den eigenen Händen erschaffen. Wem sollte es also nützen, noch einmal zurückzuschauen auf den beschwerlichen Weg bis hierher.
«Mein Vater war an vielen Orten beschäftigt. Im Waadtland, in Biel, lange in Basel. Wir waren fünf Kinder. Aber alle vom selben Vater, auch wenn er nur selten zu Hause war. Es gab auch Väter, die bei ihrer Familie geblieben sind, weil die Mütter gestorben waren. Es gab diese Grippe im Dorf. Da haben viele Frauen ihr Leben verloren.
Am Sonntag ging es in die Kirche zur Messe und zur Kommunion, dann in die Sonntagsschule. Am Morgen früh manchmal während der Fastenzeit. Vorher durfte weder gegessen noch getrunken werden. Ich musste dann aber trotzdem jeweils am Brunnen vorbei, um einen Schluck Wasser zu trinken. Ich hatte immer solchen Durst. Bevor man die Hostie in Empfang nehmen durfte, musste man natürlich die Beichte ablegen. Aber was wollte man da schon sagen, jede Woche, als Kind. So habe ich halt immer etwa das Gleiche gesagt. Ich hätte Zucker gestohlen oder mit den Brüdern gestritten. Es gab ja nicht viel, was man hätte beichten können. Irgendwann hat man sich dann doch die Frage gestellt, was denn das überhaupt soll. Wenn man etwas Ungutes getan hatte, wurde es ja mit dem Beten nicht ungeschehen gemacht. Heute ist es anders. Jetzt müssen die Kinder nicht mehr beichten. Vielleicht hat es auch gar keine Kinder mehr, die zur Messe gehen. Ich weiss es nicht, weil ich nur noch bei besonderen Gelegenheiten in die Kirche gehe. Die Prozession an Fronleichnam. Das war auch etwas. Da wurden alle Häuser der Strasse mit Leintüchern behängt. Und zwar mit den schönsten, die man hatte. Mit den alten, bestickten. Das fiel immer in die Zeit, wenn ich mit den Ziegen auf den Monti war. An diesem Tag musste ich mich immer beeilen und die Ziegen rechtzeitig einfangen, damit ich pünktlich im Dorf unten war. Solche Rituale werden heute nicht mehr gefeiert. Der Glaube wird nicht mehr in dem Mass zelebriert. Für mich spielt das keine Rolle. Ich habe meinen
Weitere Kostenlose Bücher