Steinbrück - Die Biografie
wahres Dickicht an Ausnahmen wachsen. So wird auf Schnittblumen nur ein halbierter Mehrwertsteuersatz erhoben, ebenso auf Tiernahrung, um nur die absurdesten Beispiele zu nennen. Auch Lebensmittel, Presseerzeugnisse und andere Produkte des kulturellen Bereichs profitieren vom reduzierten Mehrwertsteuersatz. W ürde man das abschaffen, wäre ein Aufschrei Dutzender Verbände und Lobbygruppen die Folge.
Steinbrück schreckt das nicht – zumindest behauptet er das. Wobei er sich in seiner Zeit als Bundesfinanzminister nicht sonderlich darum bemüht hat, die Privilegien im Steuerrecht zu verringern. Zur Wahrheit gehört allerdings auch, dass Kanzlerin Merkel seinerzeit in der Großen Koalition keinen weiteren Ärger wollte und alle entsprechenden Pläne schon in der Phase der Regierungsbildung gestoppt wurden. Warum sich Steinbrück aber in einer von ihm geführten Regierung in einen solch harten und wenig aussichtsreichen Kampf stürzen will, hängt wohl stark mit seinem streitbaren Naturell zusammen. Doch auch sein Reformeifer hat Grenzen und endet bei den wirklich harten Brocken. Weder will er Mehrwertsteuer auf Mieten und den öffentlichen Nahverkehr erheben, noch ist er bereit, das Mehrwertsteuerprivileg des Kultursektors, insbesondere der Druckerzeugnisse, abzuschaffen. Einen Kleinkrieg mit der Presse und den vielen Verlagen in Deutschland möchte pünktlich zum Wahlkampfbeginn wohl kein Kanzlerkandidat anzetteln.
Nicht vergessen jedoch hat Steinbrück ein anderes Vorhaben: die nach ihm und dem früheren hessischen Ministerpräsidenten benannte berühmt-berüchtigte Koch-Steinbrück-Liste, ein Katalog von zur Streichung empfohlenen Steuersubventionen. Sie war 2003 aus dem Wunsch der beiden Landesväter heraus geboren worden, angesichts der rot-grünen Steuerpläne den klammen Länderetats neue Einnahmequellen zu erschließen. Der Vorschlag der damaligen Ministerpräsidenten von Nordrhein-Westfalen und Hessen löste eine muntere Debatte in beiden politischen Lagern aus. So richtig trauen wollte sich dann keine Seite. Sowohl die rot-grüne Bundesregierung als auch die schwarz-gelbe Opposition suchten und fanden zahlreiche Haare in der Suppe, die ihnen da scharf gewürzt und heiß dampfend auf den Tisch gestellt worden war. Durchschlagskraft erhielt die Koch-Steinbrück-Liste vor allem deshalb, weil zwei einflussreiche Ministerpräsidenten aus beiden politischen Lagern dahinterstanden. Diesen Vorschlag konnte man jedenfalls nicht nach dem üblichen Reflexmuster gegnerischer Parteien einfach in den Papierkorb befördern.
Auf über 100 Seiten hatten der NRW- und der Hessen-Ministerpräsident zahlreiche Vorschläge aufgelistet, deren Umsetzung dem Fiskus dauerhaft 10,5 Milliarden Euro Mehreinnahmen pro Jahr bringen würde. Darunter einige Ideen, die inzwischen durch die Gesetzeslage überholt sind. Insgesamt stellte der »Katalog der Grausamkeiten«, wie die Liste in der Presse genannt wurde, aber eine mutige politische Initiative dar. Gestrichen werden sollten unter anderem die Eigenheimzulage, die Pendlerpauschale, der Sparerfreibetrag, die Steinkohlebeihilfen sowie die Abzugsfähigkeit von Aufwendungen für Bewirtungen und Geschenken für Geschäftsfreunde. Ebenfalls für die Streichliste vorgesehen, jedoch wegen Meinungsverschiedenheiten mit Koch nicht darin aufgenommen, waren der Abbau der Steuerfreiheit für Feiertags-, Sonntags- und Nachtarbeit sowie die Ausnahmeregelungen zur Entlastung des produzierenden Gewerbes von der Ökosteuer. Allein diese beiden Streichposten hätten Mehreinnahmen von knapp sechs Milliarden Euro erbracht.
Wie viel politischer Sprengstoff in jedem einzelnen dieser Punkte steckte, mag ein einziges Beispiel verdeutlichen. Zwei Jahre nach Veröffentlichung der Koch-Steinbrück-Liste griff Gerhard Schröder einen gleichlautenden Vorschlag des Verfassungsrechtlers Paul Kirchhof im Bundestagswahlkampf auf. Der renommierte Steuerjurist war im Schattenkabinett der CDU-Spitzenkandidatin Angela Merkel als Bundesfinanzminister vorgesehen. Noch-Kanzler Schröder nutzte die auch von Kirchhof propagierte Idee der Besteuerung von Nacht-, Feiertags- und Sonntagszuschlägen, um den »Professor aus Heidelberg« frontal anzugehen. Dieser herzlose Mensch wolle doch glatt der Krankenschwester ihre sauer verdienten Groschen aus der Nachtschicht wegnehmen, argumentierte Schröder. Vor allem diese Kampagne sorgte dafür, dass Schröder bei den Bürgern Zweifel am strengen marktwirtschaftlichen Kurs von
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