Steinfest, Heinrich
Entscheidung zu treffen.
Und er hatte sie getroffen, indem er sich gegen den Akt der Bestrafung und für
den Akt der Poesie entschieden hatte. Denn die Poesie hatte Tobik
gefangengenommen, wie das die Poesie mitunter tut, wenn ihr danach ist.
Diese Entscheidung bedeutete nun aber nicht, daß Tobik es
aufgegeben hatte, die Angst dorthin zu bringen, wo sie hingehörte und wo sie
viel zu lange absent gewesen war. Unmoralisch wäre ihm allein erschienen,
dieser Verpflichtung plötzlich nicht mehr
nachkommen zu wollen. Und darum auch verblieb er im Besitz seiner Waffe. Denn
er hatte ein Urteil gefällt:
Er wollte zurückkehren in dem Moment, da jemand aus der
Riege der verantwortlichen S-21-Betreiber angesichts einer der zuerst vorausgesagten,
dann eingetretenen Katastrophen den Satz aussprechen würde: "Damit haben
wir einfach nicht rechnen können." Und er würde jeden, der einen solchen
Satz geäußert hatte, liquidieren. Und zwar ganz egal, auf welche Katastrophe
sich der Satz bezöge - ob darauf, daß man mit solchen extremen geologischen
Schwierigkeiten nicht habe rechnen können oder daß eine derart gewaltige
Explosion der Kosten unkalkulierbar gewesen sei oder was auch immer.
Nur ein einziger solcher Ausspruch aus der Familie der
Rechtfertigungsphrasen würde Tobik auf den Plan rufen. Gleich, ob die Person,
die ihn sodann benutzte, noch in Stuttgart wäre oder aufgehoben in der
Geborgenheit irgendwelcher Brüsseler Schaltzentralen.
Wenn nötig, würde er sehr, sehr alt werden, in jedem Fall
länger leben als sämtliche der Personen, die in Frage kamen, im Zusammenhang
mit Stuttgart 21 einen Damit-haben-wir-nicht-rechnen-können-Satz
fallenzulassen.
In Stuttgart selbst vergaß man Tobik jedoch. Man dachte,
die Gefahr sei vorbei. - Das denkt man gerne von der Gefahr.
Im Vergessen übte sich umgehend auch Kommissar
Rosenblüt. Er vergaß nicht nur augenblicklich Hans Tobik, sondern zudem
alle anderen Protagonisten dieser Geschichte, er vergaß Stuttgart, heiratete
in München seine Aneko, bevor er dann München ebenfalls vergaß und nach
Neuseeland übersiedelte. Er war vorher niemals dort gewesen. Neuseeland
überzeugte ihn allein dank der beträchtlichen Entfernung zur alten Welt.
Am neuen Ort lernte er einen Zoologen kennen, der ihn mit
den im Norden der Insel beheimateten Neuseeländischen Urfröschen vertraut
machte, lebenden Fossilien, die seit der Saurierzeit existierten, nun aber
massiv bedroht waren. Weshalb Rosenblüt es sich zur Aufgabe machte, diesem
Aussterben am Rande der Welt zu begegnen, etwa indem er Zäune um die Brutplätze
der Frösche anlegte. Es gibt nämlich auch gute Zäune. Es gibt wahrscheinlich
von allem und jedem eine gute Version. Darin sah Rosenblüt seine
kriminalistische Funktion: zu unterbinden, daß jemand spurlos verschwand. Ein
Verbrechen bekämpfend, bevor es mit tödlicher Konsequenz geschah.
Professor Doktor Gotthard Fabian wurde mit
allen Ehren zu Grabe getragen. Viele wichtige Leute sagten nette Dinge über
ihn. Offiziell hieß es, er sei nach einem langen, erfüllten Leben mitten in
einer ehrenamtlichen Tätigkeit einem Herzinfarkt erlegen. Die wirklichen
Umstände seines Todes blieben derart unklar, daß die Politik wenig Lust
verspürte, einen Märtyrer oder ein Terroropfer aus Fabian zu machen. Um so
mehr, als auch der Münchner Professor Uhl samt Familie von der Oberfläche
verschwunden war. Die Politik fürchtete Bumerangs und Eigentore und entschied
deshalb, Fabian auf eine derart ruhige Weise unter die Erde zu bringen, wie es
dem erträumten Tiefbahnhof niemals würde beschieden sein.
Wolf Mach tauchte in der Zukunft nur noch
gerüchteweise auf. Einige behaupteten, er sei äußerlich stark verändert und
habe sich von den Organisatoren der mit so viel Verspätung ins Leben getretenen
Pro-S-21-Bewegung rekrutieren lassen. Wäre somit Teil einer Gruppe von
staatlichen Berufsdemonstranten geworden, die diesen Terminus auch verdienten,
weil sie in der Tat bezahlt wurden (ihrer Fähnchen und Kostüme wegen nannte man
sie die "koreanische Fraktion"). Freilich ging ebenso die Mär um,
Mach sei in Wirklichkeit ein Agent provocateur und für diverse Peinlichkeiten
verantwortlich, welche die Oben-ohne-Bewegung zusätzlich in ein schlechtes
Licht gerückt hätten.
Anderen Quellen zufolge war Wolf Mach in der Psychiatrie
der Münsterklinik Zweiffelsknot gelandet, ohne jedoch verbittert zu reagieren.
Zu seinen kolportierten Äußerungen zählte der Satz:
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