Steinfest, Heinrich
begriffen,
seinen Zorn und seinen Groll gegen jene, die sich zu jeder Zeit und an jedem
Ort des Staates bedienen, ihn verstümmeln und ausweiden, gleich, ob er rot oder
schwarz oder gold mit grünen Pünktchen ist. Ich meine, daß in vielen ein Tobik
steckt, wenigstens ein theoretischer Tobik: das Bedürfnis, Gerechtigkeit
herzustellen, wenn dazu die Justiz nicht in der Lage ist oder nicht willens,
was eher anzunehmen wäre. Der Tobik in uns ist das pure
Gerechtigkeitsbedürfnis.
Mir ist es nun in keiner Sekunde darum gegangen, die Dinge
zu relativieren, nur um der Gefahr einer simplen Schwarzweißzeichnung zu
entgehen. Richtig, die meisten Dinge sind grau, aber es gibt auch schwarze
Dinge, und es wäre ein literarisches Verbrechen, sie nur darum gräulich
einzufärben, um dem Vorwurf der Einseitigkeit zu entgehen. Sicher bin ich
einseitig. Sicher wird die Frage kommen, wieso ich keinen sympathischen
S-21-Betreiber eingeführt habe. Aber wie denn? Ich habe mich umgesehen und
keinen entdeckt. Warum sollte ich also für diesen Roman einen erfinden, nur
damit das Feuilleton nachher sagen kann, der Autor habe sich dem Thema
objektiv genähert? Es stimmt schon, daß die politischen Entscheidungsträger im
Schatten einer karikierenden Skizzierung verbleiben. Auf diese Weise erfüllen
sie eine exemplarische Funktion. Denn diese Projektsprechermenschen und
Bürgermeistermenschen und Funktionärsmenschen sind auswechselbar - ihnen eine
individuelle Note zu verleihen, indem man sie als Freunde der Kammermusik
zeigt, als nachdenkliche Freizeitphilosophen, als Eltern, Partner, als
Vasensammler, als Liebhaber alter Bücher, wenn schon nicht alter Bäume, als
depressiv oder träumerisch, würde heißen, eine Illusion zu schaffen, die
Illusion vom richtigen Leben im falschen. Aber diese Leute haben sich selbst in
die Schablone begeben, in die Hülse, die ihre Sprache bestimmt. Sie wollten
(frei nach Shakespeare) einst mehr als bloße Menschen sein, mehr wagen, als dem
Menschen ziemt. Jetzt sind sie weniger.
Es bleibt somit Professor Fabian überlassen, auszudrücken,
was diese "Elite" antreibt. Fabian kann aus der Karikatur und aus der
Schablone treten, weil er sich ohne Floskeln zu erklären weiß. Er macht aus
seiner Verachtung für den Bürger schlußendlich kein Hehl, während die
politischen Akteure gefangen sind im "demokratischen Theater". Ein
solches hat die "Schlichtung" zu S 21 bedeutet. Natürlich kann man
meinen, daß es bereits ein Sieg der Protestbewegung gewesen sei, die Mächtigen
von Bahn und Land an einen Tisch gezwungen zu haben. Aber der Punkt ist doch
der, daß dieses Projekt niemals als ein diskutierbares gedacht war, solche
Projekte sind das nie, vielmehr sind sie diskussionsresistent, hermetisch,
privat. Öffentliche Debatten solcher Couleur sind kein demokratisches
Instrument, sondern demokratische Inszenierungen: Jemand erklärt etwas, was
sich nicht erklären läßt. Das ist der Grund, daß so viel geschwindelt werden
muß. Jeder weiß, daß die Kosten derartiger Unternehmungen stets ein Vielfaches
dessen betragen, was veranschlagt wird, weil das Vielfache Teil der Konzeption
ist. Auch das ist ein immer wiederkehrendes Theater. Ein Ritual. Die Lüge ist Ritual.
Auch die "Schlichtung" war Ritual:
nämlich Geisterbeschwörung. Damit die "staatsfeindlichen" Geister,
die in die Hirne der Stuttgarter fuhren, sich wieder zurückziehen. Na, mal
sehen, was die Geister noch so vorhaben.
Wenn nun gerne gesagt wird, in Stuttgart werde doch
immerhin niemand gefoltert, so schlimm könne es also gar nicht sein, so muß man
vielleicht festhalten, daß der Verzicht auf Folter oft nur den historischen
Umständen zu verdanken ist, aber nicht, weil die Folterer ausgestorben sind.
Man sollte also nicht warten, bis Folter wieder ein legitimes Mittel
politischer Verfahren darstellt. Wenn die Politik beginnt, auf immer
schamlosere Weise eine ruinös agierende, aber in sich und durch sich profitable
Wirtschaft an den Gesetzen und Regeln vorbeizusteuern - und lauter kleine
Kunstwerke der Geldverschwendung zu schaffen, feines Porzellan, zerbrechlich,
aber voller Glanzpunkte -, dann ist das ein Hinweis, daß wir nicht mehr lange
mit der Rücksicht der Staatsorgane zu rechnen haben. Jedes Theater geht zu
Ende, eben auch das demokratische.
Nach dem Theater ist das Leben.
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