Steinfest, Heinrich
Einer griff ihm in die
Seitentasche seiner Laufweste und zog das Handy heraus, ein anderer das kleine
Portemonnaie mit Ausweis und etwas Geld darin und dem Schlüssel zur Wohnung.
"Lachscht du, du Penner? Willscht du was aufs Maul?"
Nein, er hatte ganz sicher nicht gelacht. Dennoch senkte
er den Blick, starrte hinunter auf den Boden und dachte: "Verdammt, ich will
mich nicht anpissen." Das war seine Angst: die Kontrolle über seine Blase
zu verlieren. Nicht, weil ihm das schon mal passiert war, aber er war ja auch
noch nie in einer derartigen Situation gewesen.
Als hätte einer von den Türkenjungs genau das vermutet,
genau diese konkrete Angst vor einer Selbstverstümmelung mittels ungewollten
Harnlassens durchschaut, wies er Martin an, sich auszuziehen. Martin rührte
sich nicht. Ein anderer, der bisher im Hintergrund geblieben war, mischte sich
ein. Mit Ruhe in der Stimme, einem fast wehmütigen Klang, frei vom
Rasenmäherton der anderen, meinte er: "Komm, Goi, bring's hinter dich, is'
ja nicht zu ändern."
Doch Martin verharrte in seiner Versteinerung. Er war
jetzt bereit, sich Schmerzen zufügen zu lassen. Lieber das, als sich nackt
ausziehen. Er sagte: "Nein." Er sagte es in der gleichen Weise, mit
der man in aussichtsloser Position ein Remis anbietet in der Hoffnung, der Gegner
sei zu faul oder zu müde für ein anstrengendes Endspiel.
Aber das hier war ja nicht anstrengend, nicht für die
Jungs, die nun begannen, Martin zu stoßen, gar nicht heftig, ein lässiges
Anrempeln bloß.
"Ey, schieb mal den Wecker rüber!" rief einer.
Er meinte die Armbanduhr.
"Nein", wiederholte Martin leise, tonlos. Das
war jetzt kein Remis mehr, was er anbot. Er bot an, sich köpfen zu lassen.
Seine Stimme war dünnes Papier, über das der Wind pfiff, der die Buchstaben verwehte.
Einer kam von hinten und legte seinen Arm um Martins Hals.
Er zog die Armschlinge zu. Zwei andere fixierten den Oberkörper und drückten
ihre Knie gegen Martins Schenkel, während ein dritter die Uhr vom Handgelenk
löste. Eine schöne Uhr, die sein Großvater Martin geschenkt hatte. Seine
Mutter hatte ihm geraten, die Uhr nicht zu tragen. Aber eine Uhr nicht zu
tragen, war ihm so komisch erschienen wie die Leute, die Brot kaufen, um dann
die Rinde wegzuschneiden.
Der letzte näherte sich, der mit dem ruhigen Tonfall,
kniete sich vor Martin hin und ging daran, die Schnürsenkel seiner Sportschuhe
zu öffnen. Er tat auch dies erstaunlich behutsam, kontrolliert, als wollte er
Martin nicht verletzen. Vielleicht schonte er aber auch nur die Schuhe.
Jedenfalls entfernte er ein Kleidungsstück nach dem anderen von Martins
erstarrtem Körper. Es glich einem Zauberkunststück, wie er die Schuhe, Socken
und Trainingshose von diesem menschlichen Fossil löste. Es war, als schäle er
eine Orange. Wozu gleichermaßen gehörte, daß er mit einem Messer Martins
Sweater von unten nach oben aufschnitt. Auch dies bedächtig, sorgsam,
geometrisch. Auf die gleiche Weise entfernte er abschließend noch die
Boxershorts, fügte alle Teile zu einem Packen zusammen und schmiß ihn in hohem
Bogen in die Isar.
Von fern sah Martin einen Jogger. Aber er war zu weit weg.
Und Schreien ging nicht.
Nach einer Weile wurde er losgelassen, die Angreifer
traten zur Seite. Martin war nun völlig nackt. Der Orangenschäler hob sein Messer
an, richtete es auf Martins kleines Glied und bemerkte: "Oh fick dich,
Mann, der is' schon beschnitten!"
Alle fünf lachten. Einer erklärte, Martin habe ein
Scheißglück, seine Vorhaut bereits los zu sein. Da könne man sich das sparen.
Schade drum. Ein anderer meinte was von wegen "dann schneid dem Spasti
halt ganze Schwanz runter". Woraufhin sie sich in einer Weise angrinsten,
in welcher der Ernst und der Spaß sich verschränkten und es für das Opfer keine
Möglichkeit gab, die beiden auseinanderzuhalten. Das Grinsen der fünf glühte
kreiselnd. Doch gleich darauf, mit einer unerwarteten Plötzlichkeit, wandten
sie sich um und gingen.
Es war kaum anzunehmen, daß sie ernsthaft vorgehabt
hatten, eine spontane Zirkumzision vorzunehmen. Es war allein um die Demütigung
gegangen, eine Demütigung, die sich jetzt fortsetzte, indem Martin frierend
und nackt im Gras stand, minutenlang unfähig sich zu bewegen, völlig in seiner
Scham eingeschlossen. Die so lange zurückgehaltenen Tränen flossen nun rasch.
Gläserne Perlen, wie auf diesem Foto von Man Ray, schmerzhaft groß, Tränen, die
beim Rinnen ein rollendes Geräusch verursachten. Tonnen
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