Sterbenswort: Thriller (German Edition)
mochte das in Amelies Herz verursachen?
Der ältere Herr wandte den Blick wieder ab und setzte seinen Weg fort.
Schon war er im Schneetreiben verschwunden.
»Ob er was gemerkt hat?«, fragte Thomas leise.
»Glaube nicht«, meinte Heinrich. »Sind wir überhaupt an der richtigen Stelle?«
Wie zur Bestätigung näherten sich aus der Ferne Lichter. Schnell war zu erkennen, dass diese zu einem Regionalexpress gehörten, nicht zu einer S-Bahn.
Kein Bremsen am Bahnhof Warschauer Straße, der Zug verlangsamte nur für seinen nächsten Halt am Ostbahnhof.
»Jetzt!«, sagte Kathrin, doch die beiden Freunde zögerten.
»Zu spät«, entgegnete Heinrich. »Wir warten auf den nächsten.«
Thomas zitterte.
»Stehst du das durch, Thomas?«, fragte Kathrin.
»Denke schon.«
Der Klang von Thomas’ Stimme signalisierte das Gegenteil.
»Wenigstens wissen wir nun, dass wir an der richtigen Stelle stehen. Wir werden es gemeinsam tun. Amelie, wir fassen mit an, sobald der nächste Zug kommt.«
Amelie schien sich wehren zu wollen, doch im Moment erforderte es weniger Kraft, einfach das zu tun, was man ihr sagte.
Wieder nickte sie.
Dankbar registrierte Kathrin, dass ihre eigenen Gefühle immer mehr abstumpften. Die Minusgrade schufen eine Taubheit, die von Trauer und Schuld ablenkten.
So standen sie da, die vier. Ihr Freund war tot.
Lange Minuten vergingen.
Einsame Nachtstreuner, feierndes Partyvolk und Betrunkene, die vorüberkamen. Niemand schöpfte Verdacht.
Lichter näherten sich aus der Ferne, sie wurden langsamer: ein Regionalexpress.
»Amelie, du packst ihn auch unten an der Hose.«
Kathrin bückte sich bereits, griff mit einer Hand nach Eriks Hosensaum, mit der anderen nach seiner Wade.
Amelie folgte ihrem Beispiel.
»Ich gebe das Kommando«, sagte Heinrich.
Kathrin schloss die Augen, wartete.
»Jetzt.«
Mit einem Ruck zog sie Eriks Bein nach oben.
Es war viel, viel einfacher, als sie befürchtet hatte. Kaum hatte sie angehoben, zog Eriks Eigengewicht ihn auch schon übers Geländer und nach unten.
Mit dem dumpfen Geräusch, das der Körper beim Auftreffen verursachte, begriff sie, dass Hinsehen besser für sie gewesen wäre.
Denn mit einem Mal tobten Bilder in ihr.
Erik, der in der Dunkelheit verschwand.
Erik, der vor dem Zug zu Boden ging und dann von den Rädern des Zugs zerhackt und zermalmt wurde.
Erik, der direkt auf die Frontscheibe knallte.
Erik, der zwischen Waggons geriet und mitgeschleift wurde.
Körperteile.
Blut.
Ein Gesicht, das nicht mehr als Eriks Gesicht erkennbar war.
Bilder, die nie mehr verschwinden sollten.
2
Heute
B is zu jenem Tag X hatte Dr. Kathrin Voss die Existenz von Geistern stets vehement als Unsinn abgetan.
An Übersinnliches glaubte sie nicht. Was sich naturwissenschaftlich nicht erklären ließ, existierte auch nicht.
Bereits im Alter von zwölf Jahren verwickelte sie Eltern und Lehrer in leidenschaftliche philosophische und religionskritische Gespräche, die stets in eine Endlosspirale führten.
Mit der Esoterik-Debatte, die unweigerlich zu einem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens über einen jungen Menschen schwappt, verhielt es sich später ähnlich.
Ihre Freundin Gisela hatte Kathrin eingeladen: Es würden auch andere junge Frauen anwesend sein, es sei so ähnlich wie eine Tupper-Party.
Statt überteuerter Plastikschatullen verkaufte »Amanda«, wie sich Gunnhild Mayr nannte, überteuerte Steine.
Die dick geschminkte, aufgetakelte Amanda mit den goldenen Strähnchen in ihrem langen schwarzen Haar wirkte wie ein Fremdkörper in Giselas Ein-Zimmer-Studentenbude.
Als brächte sie die Erlösung, breitete sie ihre mitgebrachten Einzelstücke auf schwarzem Samt auf Giselas wackligem Küchentisch aus.
Kraft- und Heilsteine nannte Amanda ihre Ware, oder auch Feng-Shui-Kristalle.
Auch wenn sie so manches Objekt als durchaus hübsch bezeichnet hätte, für Kathrin Voss blieben es lediglich mineralische Massen, geformt und gepresst durch Umwelteinflüsse und Zeit.
Die Augen der anwesenden Frauen glitzerten mehr als die Edelsteine.
Jede drückte Amanda Geldscheine in die Hand, jede außer Kathrin. Gisela wurde sogar einen dreistelligen Betrag los und schien überglücklich, ein gutes Geschäft gemacht zu haben.
Kathrin gähnte und ging frühzeitig nach Hause.
Die Freundschaft mit Gisela sollte nur noch wenige Tage dauern.
Doch je älter Kathrin wurde, desto gnädiger wurde sie im Umgang mit den Dingen, die angeblich zwischen Himmel und Erde lagen und
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