083 - Der Mann aus der Retorte
Armand Melville wurde langsam ungeduldig. Seit mehr als zwei Stunden saß er in seinem Peugeot und beobachtete den Tempel der Magischen Bruderschaft in der Rue Beranger. Die Straße lag im Süden von Paris und war nur wenige Häuserblocks lang. Der Tempel, eine zweistöckige Villa, stand in einem gepflegten Garten, der von einem eisernen Zaun umgeben war. Seit er wartete, hatte kein Mensch das Haus betreten oder verlassen.
Mit dem Warten vergeude ich nur sinnlos meine Zeit, dachte er. Ich werde mir mal den Tempel ansehen.
Melville stieg aus dem Wagen, blickte sich rasch um und schritt auf das schwere Eingangstor zu, das zu seiner Überraschung nicht abgesperrt war.
Zwei Minuten später stand er vor dem Tempel. Es war dunkel. Die Straßenbeleuchtung erhellte den Garten nur dürftig. Im Haus brannte kein Licht.
Einen Augenblick zögerte Armand Melville, dann stieg er die Stufen hoch, die zu einer kunstvoll verzierten Eichentür führten. Wieder erlebte er eine Überraschung: Die Tür stand einen Spalt offen. Vorsichtig drückte er die Tür auf. Sie quietschte. Aus der Rocktasche holte er eine Taschenlampe und knipste sie an. Mißtrauisch trat er in die Diele. An der linken Wand befand sich eine Kleiderablage, davor standen ein kleiner Tisch und zwei Stühle. Rechts waren drei schmale Türen zu sehen. „Ist da jemand?" fragte Armand laut.
Ganz wohl fühlte er sich nicht in seiner Haut. Nach drei Schritten blieb er wieder stehen.
„Niemand zu Hause?"
Er bekam keine Antwort.
Er erinnerte sich kurz an Dorian Hunters Warnung, auf keinen Fall den Tempel zu betreten, hob die Schultern und ging weiter.
Armand Melville war Reporter des France-Soir. Er war mittelgroß, sein Gesicht hager und braungebrannt.
Vor vierzehn Tagen war er von seiner Hochzeitsreise zurückgekommen. Er hatte Sybill Ferrand geheiratet, die er bei einer Seance kennengelernt hatte, an der er zusammen mit dem Dämonenkiller teilgenommen hatte. Sybill und er hatten einige unglaubliche Abenteuer zu bestehen gehabt und waren im letzten Augenblick von Dorian Hunter gerettet worden. Dem Dämonenkiller verdankte Armand seine sensationellste Reportage über das Auftauchen der Mumie. Zu seiner Hochzeit hatte er von Hunter ein Glückwunschtelegramm und ein hübsches Geschenk bekommen. Vor drei Stunden war er nach Hause gekommen. Das Telefon hatte geläutet, und Dorian Hunter war am Apparat gewesen. Er hatte ihn gebeten, den Tempel der Magischen Bruderschaft zu beobachten und ihm dann später Bericht zu erstatten.
Armand war aus den Worten des Dämonenkillers nicht recht klug geworden. Hunter hatte von Guillaume Fernel gesprochen, der der Großmeister der Pariser Loge gewesen war.
Fernel sollte unter reichlich seltsamen Umständen gestorben sein. Hunter wollte eigentlich nur wissen, ob im Tempel in Paris alles in Ordnung war.
Der Reporter wußte über die Magische Bruderschaft Bescheid. Es handelte sich dabei um eine internationale Verbindung mit magischem Bildungsprogramm, deren oberstes Ziel die Verwirklichung humanitärer Programme war und die der Dämonologie und der Schwarzen Magie den Kampf angesagt hatte. Melville hatte kein Interesse gehabt, der Bruderschaft beizutreten. Er war Kriminalreporter und beschäftigte sich nur sehr selten mit okkulten Dingen.
Armand durchquerte die Diele und öffnete die hohe Tür an der Schmalseite des Raumes. Ein breiter schmuckloser Gang zog sich tief ins Gebäude hinein. Armand schlug einen dicken Vorhang zurück und hob die Taschenlampe.
Was er zu sehen bekam, wollte ihm gar nicht gefallen. Alle Einrichtungsgegenstände waren zertrümmert. Eine der weißen Wände hatte Rußflecke. Es sah aus, als wäre ein Tornado durch den großen Raum gerast und hätte alles verwüstet.
Jetzt erwachte sein Reporterinstinkt. Er witterte eine Story. Rasch stieg er über die zerbrochenen Möbelstücke und strebte einer Tür zu, auf die ein Teufelskopf gemalt war. Überrascht blieb er stehen und rieb sich mit der linken Hand das Kinn. Der Teufelskopf paßte sogar nicht in einen Tempel der Magischen Bruderschaft.
Ohne zu zögern, öffnete Armand die Tür. Das muß der sogenannte Meditationsraum sein, dachte er. Auch hier sah es wüst aus. Ein Schrank war umgekippt, kostbare Becher lagen auf dem Boden verstreut, Wein war verschüttet, in dem einige Oblaten schwammen; eine der Wände war mit obszönen Ausdrücken bemalt.
Hinter dem Meditationsraum befand sich der eigentliche Tempel, der nur von Mitgliedern der Bruderschaft
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