Sterbenswort: Thriller (German Edition)
sich ihrer wissenschaftlichen Prüfung entzogen.
Berichtete ihr jemand voller Enthusiasmus und Euphorie von Rutengängen, Auspendeln oder Ouija-Brettern, so lernte sie, es kommentarlos zu ignorieren.
Vor nicht allzu langer Zeit hatte ihr ihre beste Freundin Sara Lüdtge erzählt, dass sie über ein Medium namens Thora Lumina mit ihrem verstorbenen Ehemann in Verbindung stünde. Saras Augen strahlten. Kathrin entlockte es lediglich ein müdes Lächeln, doch gönnte sie ihrer Freundin das Glücksgefühl.
Als Kathrins Vater starb und Sara ihr empfahl, via Thora Lumina Kontakt mit ihm aufzunehmen – so viele Dinge seien schließlich zwischen Vater und Tochter ungeklärt –, da lachte Kathrin schallend auf, beherrschte sich aber schnell wieder.
Die Freundschaft zu Sara überdauerte die Meinungsverschiedenheit. Und Sara sprach das Thema nie wieder an.
Dr. Kathrin Voss war also ein rational denkender Mensch – bis zu jenem Tag X: Alles begann mit der schwangeren Puppe ihrer Tochter Mia …
Wie üblich brachte Kathrin ihre vierjährige Tochter kurz nach 19 Uhr zu Bett. Sie deckte sie liebevoll zu, setzte sich auf einen Stuhl neben Mias Bettchen und beobachtete sie.
Manchmal schlief Mia sofort ein, heute jedoch schien sie noch etwas munterer zu sein.
Seit Stunden hatte es beinahe ununterbrochen geregnet. Sie und die anderen Kinder hatten den Tag innerhalb der Räume des Kindergartens verbracht. Wenn Mia draußen spielen konnte, war sie abends ausgelaugter. Sie tobte sich gerne aus.
Kathrin musterte Mias blonde Locken, die ihr pausbäckiges Gesicht umrahmten. Sie dachte daran, dass sie auf ihren eigenen Kinderfotos ihrer Tochter zum Verwechseln ähnlich sah, und strich sich mit der Hand durchs schulterlange Haar.
»Na, soll die Mama dir noch etwas vorlesen?«
»Au ja.«
Mia grinste fröhlich und erwartungsvoll.
»Ein Märchen oder Pu, der Bär ?«
» Pu, der Bär «, sagte Mia, ohne auch nur eine Sekunde zu überlegen.
Kathrin verspürte eher Lust auf ein klassisches Märchen. Seit mehreren Wochen las sie ihrer Tochter beinahe jeden Abend die immer gleiche Geschichte von Pu vor, wie er aufgrund seiner Naschsucht immer dicker wurde und deswegen – als er sich auf den Nachhauseweg machen wollte – nicht mehr durch den Ausgang im Kaninchenbau passte.
Trotzdem holte sie das Buch und schlug es auf.
»Charlie«, sagte Mia und drehte ihren Kopf hin und her.
»Was?«
»Charlie fehlt.«
Eigentlich hatte Mias Puppe ursprünglich »Charlotte« geheißen, doch Mia hatte irgendwo den Namen »Charlie« aufgeschnappt und die Puppe kurzerhand umbenannt.
Kathrin entdeckte Charlie schnell. Sie saß auf Mias Kinderschreibtisch, mit ihrem Rücken an die Wand gelehnt. Kathrin platzierte sie morgens immer dort, ehe sie Mias Bett aufschüttelte.
Kathrin stutzte. Charlies rosafarbenes Kleidchen wölbte sich über ihrem Bauch. Irgendetwas musste darunter stecken.
Kathrin stand auf und holte die Puppe. Mit ihrer Hand tastete sie unter das Kleid.
»Hast du mit ihr Pu, der Bär gespielt? Hat Charlie zu viel gegessen?«, fragte sie, während sie herauszog, was sich unterhalb des Stoffes befand.
»Ich war das nicht.«
Kathrin hielt einen grünen Apfel in der Hand.
Sie wusste, woher er stammte. Erst gestern hatte sie die Obstschale auf dem Wohnzimmertisch mit Granny Smith gefüllt.
»Du sollst doch nicht mit Essen spielen, Mia«, sagte sie, nicht allzu streng.
»Aber das war ich nicht.«
»Charlie hat sich den Apfel wohl selbst unters Kleid geschoben?«
»Vielleicht hat Charlie ja Kinderkriegen gespielt.«
»Was?«
»Franzis Mama hat auch so einen dicken Bauch. Und Franzi hat gesagt, ihre Mama bekommt ein neues Kind.«
»Du hast also Kinderkriegen mit Charlie gespielt.«
»Nein. Ich nicht. Charlie hat es selbst gemacht.«
Kathrin reichte Mia die Puppe und besah sich dann den Apfel. Er sah noch genießbar aus. Sie trug ihn in die Küche, wusch ihn ab und legte ihn dann zurück in die Obstschale.
Als sie zurück ins Kinderzimmer kam, schlief ihre Tochter bereits, Charlie eng an sich gedrückt. Kathrin freute sich darüber, dass sie die Geschichte heute nicht vorlesen musste, und stellte das Buch von Pu zurück ins Regal. Beim Verlassen des Raums ließ sie die Tür angelehnt.
Im Wohnzimmer setzte sie sich aufs Sofa. Ihr Blick fiel noch einmal auf die Obstschale. Ganz instinktiv und ohne hinzusehen griff sie nach rechts, um sich die Fernbedienung zu nehmen. Sie legte sie vor dem Zu-Bett-Gehen immer auf die
Weitere Kostenlose Bücher