Sterbestunde - Hübner, M: Sterbestunde
selbst nicht.«
»Na toll!« Sven ging geradewegs auf die Leiche zu und kniete neben ihr nieder. Er schlug das rot befleckte Tuch zurück – und einen kurzen Moment lang glaubte er, in das aufgequollene Gesicht von Edmund Heibel zu blicken, war sich beinahe sicher, das geflochtene Seil zu erkennen, das noch immer um seinen Hals geschlungen war. Erschrocken fuhr er zurück, bis sich das Trugbild schlagartig auflöste und er in Erik Jensens blutverschmiertes Gesicht blickte. Die Augen waren geschlossen. An seiner Stirn klaffte eine tiefe Platzwunde, und seine langen braunen Haare klebten blutgetränkt an dem zerschmetterten Schädel.
»Ziemlich hässlicher Kerl, was?«, sagte Dennis. »Kennst du ihn etwa?«
»Nur flüchtig«, erwiderte Sven, aus dessen Blick alle Gleichgültigkeit verschwunden war. Er bedeckte das Gesicht des Toten wieder und erhob sich. »Als Sandras Wagen vor zwei Monaten zur Inspektion war, habe ich ihn öfter im Heim gesehen, wenn ich sie manchmal abends von der Arbeit abgeholt habe. Hat nicht gerade einen sympathischen Eindruck gemacht.«
»Laut den Aussagen der übrigen Hausbewohner war er das auch nicht«, sagte Dennis. »Jensen galt als unfreundlich und rücksichtslos. Es gab mehrfach Beschwerden wegen zu lauter Musik aus seiner Wohnung. Als der Vermieter ihn vor ein paar Tagen darauf angesprochen hat, soll Jensen ihm sogar mit Prügel gedroht haben.«
»Ideale Voraussetzungen, um in einem Pflegeheim zu arbeiten«, bemerkte Sven sarkastisch.
»Ja, irgendwas passt hier nicht zusammen.«
»Was ist mit Angehörigen?«
»Bis jetzt konnten wir noch keine finden«, sagte Dennis.
»Was denn, der Junge war erst neunzehn. Da muss es doch irgendwelche Verwandten geben.«
»Seine Akte wird uns sicher mehr Auskunft geben. Aber die Nachbarn beschreiben Jensen als Einzelgänger. Keinerlei Hinweise auf Freunde oder sonstige Kontakte. Bis auf das hier.« Er zog einen Plastikbeutel aus der Innentasche seines Sakkos und reichte ihn Sven. »Ich habe vorhin nichts davon erwähnt, wegen Koschny.«
Sven betrachtete den Gegenstand in dem Beutel. »Ein Notizbuch?«
»Ja. Wir haben es bei dem Toten gefunden. Er hat es so fest umklammert, dass wir ihm beinahe die Finger brechen mussten. Hatte fast den Eindruck, er wollte, dass wir es finden.«
»Demnach war er nicht auf der Stelle tot.«
»Nein. Er hat sich sogar noch ein Stück die Straße runtergeschleppt, was bei der Schwere seiner Verletzungen beinahe unmöglich erscheint.«
»Steht denn was Verwertbares darin?«
»Sag du’s mir. Keinerlei Eintragungen bis Ende Juni diesen Jahres, aber dann wird’s umso merkwürdiger. Sieh selbst.«
Sven nahm das blutverkrustete Notizbuch und schlug es etwa in der Mitte auf. Rasch überflog er die krakelige, fast kindliche Handschrift unter den Datumsangaben:
Montag, 26. Juni
CD 8/13- CP
Code?
Angestrengt folgten Svens Augen den schwer leserlichen Zeilen. Er war eindeutig zu erschöpft für solche Rätsel. Trotzdem packte ihn die Neugier, und er las weiter:
Donnerstag, 29. Juni
Passwort: »Levy«
Columbus-Projekt??
Verwirrt blickte er auf.
Dennis zuckte lediglich die Schultern. »Es wird noch merkwürdiger.«
Sven senkte den Blick wieder auf das Notizbuch:
Montag, 2. Juli
21:00 N.N. – Inesco!
Mittwoch, 11. Juli
WWSG 368 – Umbra.
Freitag, 13. Juli
RMK : 90500 Coeo.
Samstag, 28. Juli
1492!
Dieser letzte Eintrag war doppelt unterstrichen. Sven blätterte einige Seiten vor, konnte jedoch keine weiteren Notizen finden.
»Samstag, 28. Juli«, flüsterte Sven. »Das ist übermorgen.«
»Kannst du dir einen Reim auf das Ganze machen?«, fragte Dennis.
»Nein.« Kopfschüttelnd reichte Sven ihm das Notizbuch zurück. »Aber du hast mich überzeugt. Lass uns ein paar Fragen stellen.«
»Gut«, sagte Dennis und gab sich dabei Mühe, nicht zu triumphierend zu klingen. »Dann fangen wir morgen früh gleich mit dem Altenheim an.«
Sven schaute nachdenklich zu Boden.
»Soll ich das lieber allein erledigen?«
»Nein, ist schon gut«, winkte Sven ab. »Ich komme mit. Wird sich auf Dauer ohnehin kaum vermeiden lassen, dass wir uns über den Weg laufen.«
»Ruf sie doch einfach an, und versuch, das Ganze wieder ins Lot zu bringen«, schlug Dennis vor.
»Das würde ich vielleicht sogar tun, wenn ich wüsste, wo sie ist. Vermutlich hängt sie bei diesem religiösen Verein rum, bei dem sie in letzter Zeit ständig ist.« Sven stieß einen tiefen Seufzer aus und fuhr sich mit der Hand übers Gesicht.
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