Küss mich wie damals
1. KAPITEL
1817
Frances hielt beim Malen inne und seufzte im Stillen über das unattraktive Modell. Lady Willoughby war ausgesprochen fett. Ihr wulstiges Kinn wurde noch durch das protzige Diamantkollier betont, und die kleinen Augen verschwanden fast in dem feisten Gesicht. Rotbraunes Haar quoll unter dem mit einer wallenden Feder verzierten Satinturban hervor. Das Porträt hatte nur entfernte Ähnlichkeit mit Ihrer Ladyschaft, da Frances wusste, dass sie ihr schmeicheln musste, um das verlangte Honorar in voller Höhe zu bekommen. Nase, Brauen und Augen hatte sie wahrheitsgemäß widergegeben, den Teint der Dame jedoch aufgehellt, ihr weniger Falten ins Gesicht gemalt und das Doppelkinn nur angedeutet.
Eines Tages würde sie ein der Realität entsprechendes Bild malen und sich nicht um die Konsequenzen scheren. Für heute hatte sie jedoch genug. Sie nahm den Lappen zur Hand, um die Farbe vom Pinsel zu entfernen, und hörte Ihre Ladyschaft sagen: „Angeblich ist der Duke of Loscoe in der Stadt und hat vor, für die Saison zu bleiben.“
Frances ließ sich nicht anmerken, dass sie plötzlich aufgeregt war, auch wenn es sie viel Selbstbeherrschung kostete. „Ach, tatsächlich?“, erwiderte sie leichthin und begann, die Quaste zu reinigen.
„Ja, mein Sohn Benedict hat das vom Marquis of Risley erfahren, dem Sohn Seiner Gnaden, der wie er in Eton zur Schule geht“, fuhr Lady Willoughby fort. „Beide sind sehr gut miteinander befreundet. Und Lady Lavinia wird bald ihr gesellschaftliches Debüt geben.“
„Lady Lavinia?“, wiederholte Frances und gab sich den Anschein, nicht zu wissen, dass es sich bei dieser Person um die Tochter des Duke of Loscoe handelte. Sie wollte nicht, dass der alte Skandal wieder zur Sprache kam, wenngleich die Sache ihr jetzt, da sie verwitwet und fast fünfunddreißig Jahre alt war, nichts mehr bedeutete. Sie betrachtete sich als gefeit gegen das Geschwätz der Klatschmäuler, konnte indes nicht leugnen, ein gewisses Bedauern und gleichzeitig eine leichte Verärgerung zu empfinden.
„Sie wissen doch, dass Lady Lavinia Stanmore die vollkommen verzogene siebzehnjährige Tochter Seiner Gnaden ist“, antwortete Lady Willoughby. „Seit dem Tod seiner Gattin darf sie alles, sogar im Herrensitz reiten und eigenhändig kutschieren, ohne einen Lakai bei sich zu haben. Außerdem hat ihr Vater nichts dagegen, dass sie ihre Nase in seine geschäftlichen Angelegenheiten steckt, mit seinen Freunden und Bekannten diniert und bei der Unterhaltung kein Blatt vor den Mund nimmt.“
„Ich bin überzeugt, Seine Gnaden weiß, was er tut.“ Frances stand auf und begann, ihre Malutensilien einzusammeln.
„Das bezweifele ich, meine Liebe. Lady Lavinia braucht wieder eine Mutter, die ihr Zügel anlegt, denn sonst wird sich nie ein Mann für sie interessieren. Und genau das ist der Grund, weshalb der Duke of Loscoe in die Stadt kommt. Er will sich wieder vermählen.“
Innerlich zuckte Frances zusammen. Lady Willoughby schien das nicht bemerkt zu haben, denn sie redete weiter und streute dadurch noch mehr Salz in die Wunde, die eigentlich längst hätte verheilt sein müssen. „Er ist jetzt vierzig Jahre alt, hat sich gut gehalten und sieht noch sehr attraktiv aus. Bestimmt ist er die beste Partie der Saison.“
„Ich bin froh, dass meine Stieftochter bereits glücklich verheiratet ist“, erwiderte Frances, während sie ihre Malsachen im Kasten unterbrachte. „So, ich muss fort, Madam. Ihr Porträt wird in wenigen Tagen fertig sein.“
„Gut! Dann bringen Sie es mir am Donnerstag, wenn mein Gatte zu Hause ist. Ich bin sicher, es wird ihm gefallen. Sie genießen schließlich einen ausgezeichneten Ruf, meine Liebe, denn sonst hätte ich Ihnen diesen Auftrag nicht erteilt.“
„Danke, Madam.“
„Kommen Sie dann zum Tee.“
„Das tue ich gern“, sagte Frances und verabschiedete sich. Ein Lakai geleitete sie ins Entrée, wo der Butler ihr in den Mantel half und ihr dann die Handschuhe reichte. Ein weiterer Diener trug ihr den Kasten und die Staffelei nach draußen zu ihrer Karosse, stellte beides auf dem Boden zwischen den Sitzen ab und klappte den Tritt herunter, damit sie einsteigen konnte. Sobald sich der Schlag hinter ihr geschlossen hatte, trieb Harker, ihr Kutscher, das Gespann an, lenkte es durch die Upper Brook Street und hielt, nachdem er in die Duke Street abgebogen war, eine Weile später vor Corringham House.
„Ich brauche Sie heute nicht mehr, Harker“, sagte Frances,
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