Sterblich
Betreten des Lokals merkt er, dass die Atmosphäre nicht mehr die gleiche ist. Es ist eine Kunst, das Besondere langfristig zu bewahren, das charmante Chaos, das hemmungslose Gedränge. Wird eine Zutat für die Soße weggelassen, ist sie eine andere. Keine Frage, es ist schön geworden nach der Renovierung, aber es ist nicht mehr das Gleiche.
Er findet Brogeland an der Bar. Dieses Mal in zivil. Es sprudelt in einem polierten Glas, das neben ihm auf dem Tresen steht. Sie begrüßen sich mit einem Handschlag.
»Was dagegen, wenn wir uns an einen Tisch setzen?«, sagt Henning. »Gerne in der Nähe des Ausgangs?« Er hat keine Lust zu erklären, warum, darum sagt er nur: »Ich kriege Rückenschmerzen vom langen Stehen.«
»Klar.«
Sie gehen an den nächsten freien Tisch am Fenster mit Blick auf die Straße. Autos rauschen vorbei. Alle sehen silbergrau aus. Eine übertrieben freundliche Frau in Kellnerkluft kommt zu ihnen und sieht ihn an.
»Möchten Sie etwas essen?«
»Nein danke. Für mich nur eine Tasse Kaffee.«
Brogeland gibt ihr mit einem Nicken auf sein Glas zu verstehen, dass er mit seiner sprudelnden Erfrischung zufrieden ist, und folgt ihr mit dem Blick, als sie zum Tresen zurückgeht. Als er sich wieder Henning zuwendet, strahlen seine Augen geschäftsmäßige Professionalität aus. Er sagt nichts, sieht Henning nur auffordernd an. Henning nimmt das Drehbuch und legt es zwischen ihnen auf den Tisch.
»Die SMS , die Henriette Hagerup am Abend ihrer Ermordung an Mahmoud Marhoni geschickt hat, hatte nicht zufällig den gleichen Wortlaut wie das hier?«
Er zeigt auf die erste Seite mit der ersten Textmitteilung und mustert Brogelands Augen, während der Polizist liest. Ein einfacher Job. Brogeland braust auf.
»Was zum …«
»Das ist ein Film-Skript, das Henriette Hagerup und eine ihrer Mitschülerinnen geschrieben haben.«
Henning zeigt ihm die beiden folgenden SMS . Brogeland überfliegt sie rasch.
»Das sind sie, wortwörtlich! Wo hast du das her?«
»Von Anette Skoppum«, sagt Henning und zeigt auf ihren Namen auf dem Deckblatt. Brogeland lehnt sich gegen den Tisch. Henning fährt fort: »Das Drehbuch handelt von einer Frau, die in einem Erdloch zu Tode gesteinigt wird, in einem Zelt auf dem Ekeberg, und es endet damit, dass ein Unschuldiger für den Mord ins Gefängnis wandert.«
»Marhoni«, sagt Brogeland leise.
Henning nickt. Er beschließt, die Karten weitgehend offen auf den Tisch zu legen und Brogeland in alles einzuweihen, was er in den letzten Tagen herausgefunden und welche Schlussfolgerungen er daraus gezogen hat. Die nächsten fünf Minuten hält er einen Monolog. Er verfolgt damit ganz bewusst eine bestimmte Strategie. Zum einen ist es immer gut, sich mit anderen auszutauschen. Oft kriegen Gedanken einen etwas anderen Blickwinkel, wenn man sie laut ausspricht. Ähnlich wie mit Sätzen, die man schreibt. Man weiß nie, ob die Sätze auch wirklich funktionieren, bevor man sie nicht laut gelesen hat.
Zum anderen ist es ihm nur recht, wenn Brogeland in seiner Schuld steht. Offensichtlich hat Brogeland nichts von dem Skript gewusst, bevor er das Lompa betreten hat, sodass er Henning jetzt mindestens einen Gefallen schuldig ist. Das ist die beste Art und Weise, eine Quelle aufzutun.
»Wo ist Anette jetzt?«, fragt Brogeland, als Henning zum Ende gekommen ist.
»Keine Ahnung.«
»Wir müssen sie finden.«
»Ich weiß nicht, ob das so einfach werden wird.«
»Wie meinst du das?«
»Sie weiß, dass Henriette wegen des Drehbuchs ermordet wurde, und ich an Anettes Stelle würde mir jetzt schon Sorgen machen, auch in so einem Loch zu enden.«
»Du denkst, sie ist untergetaucht?«
»Würdest du das nicht tun?«
Brogeland antwortet nicht, aber Henning sieht dem Kommissar an, dass er ihm zustimmt.
»Ich muss das Drehbuch konfiszieren.«
Henning würde am liebsten protestieren, weiß aber, dass er damit die laufenden Ermittlungen behindern würde. Und er will sich nicht strafbar machen.
»Wenn du eine Kopie für mich machst, okay«, sagt er.
»Dafür werde ich sorgen. Verdammt, Henning. Das ist …«
Er schüttelt den Kopf.
»Ich weiß. Gjerstad verschluckt wahrscheinlich seinen Bart, wenn du das bei der nächsten Sitzung aus dem Hut zauberst.«
Brogeland grinst. Die meisten Menschen, die Vorgesetzte haben, verbinden irgendetwas Negatives mit ihren Chefs. Das kann der Körpergeruch sein, die Art, wie sie sich kleiden, ein Dialekt oder Essensgewohnheiten, ganz triviale Dinge. Oder
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