Freunde müssen töten - Thriller (German Edition)
1. Prolog: Im Reich der Engel
Am Morgen ihres Todes wurde sie erstmals in das Reich der Engel geführt. Die alten Steinwände glänzten feucht und der Geruch von Moder und Schimmel wehte ihr ins Gesicht. Sie musste einen Brechreiz unterdrücken. Über faulige Holzträger, mit denen das Gewölbe abgestützt wurde, flitzten geschäftige Ratten. Ihnen konnte der intensive Geruch nach Fäulnis und Verwesung nichts anhaben, im Gegenteil, sie genossen diesen Ort der Zersetzung.
Sie versuchte ihren Blick auf die roten Augen und die gelben Zähne einer Ratte zu fokussieren, die knapp vor ihrem Gesicht über einen schrägen Balken huschte, aber ihre Pupillen rutschten nach oben und sie musste gestützt werden, damit sie nicht in einen der zahlreichen Schächte fiel und sich das Genick brach.
Das wäre schade gewesen.
Dann hätte sie nicht mehr das Rondell erreicht mit dem gewellten, verschimmelten Boden und den vielen geborstenen Spiegeln. Vor allem aber hätte sie niemals die Mädchen kennen gelernt, die mit ihren angenähten Federn und toten Augen wie kleine Engel aussahen und sie neugierig betrachteten und begierig darauf warteten, dass sie eine von ihnen werden würde.
Wenn das Mittel nachließ, spürte sie den Schmerz überall auf ihrem Körper, sah schattenhaft die kleinen Federn auf ihrer Brust und die blutigen Flügel auf ihren Schultern. Am liebsten hätte sie laut aufgeschrien, aber sie brachte keinen Ton hervor, nur ein heiseres Krächzen, denn ihre Kehle war ausgedörrt und das Schlucken fiel ihr schwer.
Irgendein intaktes Kämmerchen in ihrem Schädel flüsterte ihr höhnisch zu, dass dieser Alptraum nie zu Ende sein würde, dass diese Federn, die in ihre Haut genäht waren, und schmerzten und wie Feuer brannten, dass diese Federn ihren Tod herbeiführen würden. Mit glasigen Augen starrte sie ohne zu begreifen auf den an ihrem Oberarm festgeklebten Plastikbeutel, aus dem wie in Zeitlupe monoton eine gelbe Flüssigkeit in einen Schlauch tropfte, weiter bis zu der Kanüle glitt, die direkt in ihrer dicken, blau angelaufenen Vene in der Armbeuge befestigt war und ihr die Illusion vermittelte, sie könne diese Folter überleben. Dieses tropfende Geräusch vermischte sich mit dem mitleidlosen Klacken des diamantbesetzten Sekundenzeigers ihrer Armbanduhr, dem einzigen Gegenstand, der ihr noch geblieben war, und der sie daran erinnerte, dass ihre Zeit abgelaufen war.
2. Rotes Auge
Als es wie jeden Abend an der Tür läutete, wusste Gregor Pestalozzi noch nicht, dass er den Rest seines Lebens in dem „weißen Zimmer“ mit sinnlosem Schachspielen verbringen würde.
Erst als er die fremde Stimme hörte, die sich hoch und schrill wie ein Schneidbrenner in sein Gehirn fräste, schreckte er hoch und blickte verwirrt in seinem Zimmer umher, so als würde er das schmale Bett, den Kasten, den Schachbrettteppich und die Papierstöße mit seinen Anmerkungen und Analysen zu der Fischer-Spasski-Partie zum ersten Mal sehen.
Auf seinen Knien rutschte er über den Teppich aus schwarzen und weißen Quadraten, schob die Tür seines Zimmers einen Spalt breit auf, nur so weit, bis ein schmaler Lichtstrahl in sein dunkles Zimmer fiel, und er in dessen hellem Schein auf den Bauch sank, um zu lauschen. Doch Worte und abgehackte Sätze flossen an ihm vorbei wie geschmeidiges Quecksilber und glitten durch seine Finger, ohne dass er ihren Sinn begreifen konnte.
Er nutzte den Augenblick, als sie erneut die Tür des Penthouses geöffnet hatte, wahrscheinlich wollte sie den Besucher wieder hinauswerfen, um schnell in ihr Schlafzimmer zu schleichen. Dort versteckte er sich wie immer in dem großen Kleiderschrank und spähte zwischen den Lamellen der Schiebetür genau auf ihr Bett.
Diesmal jedoch kam sie nicht direkt in das Schlafzimmer, so wie sie das sonst immer tat, diesmal blieb sie im Wohnzimmer. Er hörte sie nervös auf den Boden trampeln, auch der Besucher war noch hier und ging mit lauten Schritten auf und ab, mit Schritten, die aggressiv wie Peitschenschläge auf das Parkett knallten.
Jetzt wurde die Tür zum Schlafzimmer aufgerissen. Doch es war nicht wie sonst, dass sie sich die Kleider vom Leib rissen und dann nackt ins Bett fielen. Diesmal zögerte sie, wurde aber von dem Besucher vorwärts gedrängt und immer weiter zum Bett geschoben. Die Atmosphäre wurde düster und spannungsgeladen und als auch das Licht der Stehlampe in der Ecke zu flackern begann, biss er sich ganz fest in den Finger, bis er das Blut schmeckte
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