Sterblich
schließlich das Wort ergreift, spricht er langsam und mit großem Ernst.
»Wenn du recht hast mit dem, was du sagst, müssen wir die Schlinge um BBB s Hals enger ziehen. Aber das bedeutet dann auch, dass du dich in nächster Zeit etwas bedeckt halten solltest, Henning.«
»Wie meinst du das?«
»Wenn diese Gang wie die anderen Gangs ist, die in Oslo operieren, sind das echte Hardcore-Drecksäcke. Die haben kein Gewissen. Wenn du der einzige Zeuge bist, der Yasser Shah mit dem Tatort in Verbindung bringen kann, bist du – in ihren Augen – ein toter Mann. Wie ich bereits sagte, sie nehmen sich gegenseitig in Schutz. Darüber hinaus könntest du dazu beitragen, den Fokus auf sie und ihre Geschäfte zu lenken. Und das könnte ihre Haupteinnahmequelle gefährden oder sie zumindest massiv einschränken. Diese Typen sind extrem profitgierig. In dieser Kombination ein ziemlich tödlicher Cocktail.«
»Du meinst also, sie wollen mich aus dem Weg räumen?«
Brogeland sieht ihn ernst an.
»Du solltest das auf jeden Fall auf der Rechnung haben.«
»Vielleicht«, sagt Henning und schaut aus dem Fenster. Auf der anderen Straßenseite steht ein Mann und raucht. Henning sieht ihn an. Der Mann erwidert seinen Blick. Lange.
Er denkt darüber nach, was Brogeland gerade gesagt hat. Sein Konterfei ist heute in allen Tageszeitungen zu sehen. Es ist ein Einfaches herauszufinden, wo er arbeitet, wo er wohnt und wer zu seiner Familie gehört.
Verdammt, denkt er.
Mama.
45
Der Mann auf der anderen Straßenseite ist verschwunden. Henning hat ihn nicht genau gesehen, er weiß nur, dass er klein und stämmig war, eine dunkle Hautfarbe und eine Glatze hatte. Er hat eine kurze Hose getragen und ein weißes, kurzärmeliges, offenes Hemd mit seltsamen Figuren. Und nun ist er weg.
Henning wählt beim Gehen die Nummer seiner Mutter. Es klingelt. Lange. Er wird unruhig und denkt, dass sie eigentlich doch gar nicht so schlecht auf den Beinen ist und nur manchmal etwas länger braucht, um von einem Punkt zum anderen zu kommen, wenn der Husten einsetzt.
Er lässt es immer weiter klingeln. Vielleicht ist sie einfach nur schlecht gelaunt und lässt es extra lange klingeln, um ihm ein schlechtes Gewissen zu machen. Das wirkt meistens. So wie jetzt auch. Verflucht noch mal, Mama, sagt er zu sich selbst. Jetzt geh endlich ran!
Am Anfang der Tøyengata überquert er die Kreuzung. Sein Blick ist nach unten gerichtet, er versucht, das Gesicht so gut wie möglich zu verbergen, und merkt, wie sein Herz zu rasen beginnt. Verflixt und zugenäht, Mutter, denkt er wieder und geht schneller. Seine Beine arbeiten gegen ihn, aber er ist bereits auf dem Weg zu ihr. Sie antwortet immer noch nicht, er muss sich beeilen, sieht sich um, aber um ihn herum ist ein einziges Wirrwarr von Menschen, Autos und Taxis. Er fühlt sich beobachtet, verfolgt, obwohl er niemanden sieht, der ihn konkret beschattet. Es riecht scharf, würzig, als er an dem Videoshop am Eingang zur U-Bahn-Station Grønland vorbeigeht. Er will gerade auflegen, als das Klingeln verstummt und jemand den Hörer abnimmt.
»Mama?«, sagt er leise. Er bezweifelt, dass seine Stimme den Hintergrundlärm von Grønland übertönt, hört aber ihren Atem. Oder zumindest ihre Versuche zu atmen.
Es ist nichts passiert. Jedenfalls nichts Neues. Das entnimmt er ihrer Stimme. Sie ist sauer. Sie braucht gar nichts zu sagen, damit er das erkennt. Das ist das Faszinierende an ihr, sie hält Vorträge, ohne ein einziges Wort zu äußern. Ein Blick reicht schon, ein Seufzer, eine Bewegung mit dem Kopf. Christine Juul verfügt über ein Arsenal an Gefühlen und Vorwürfen, die nicht ausgesprochen oder formuliert werden müssen. Sie hat etwas von der Zeichentrickfigur Lui oder La Linea, deren Hintergrund je nach Stimmung die Farbe wechselt.
Lui ist vom Pech verfolgt.
»Bist du noch dran?«, fragt er.
Schnaufen.
»Wie geht es dir, Mama?«, fragt er und erkennt im gleichen Augenblick die Sinnlosigkeit seiner Frage.
»Warum rufst du an?«, grummelt sie am anderen Ende.
»Ich wollte nur …«
»Ich brauche Milch.«
»Äh …«
»Und Zigaretten.«
Er wartet auf die Aufforderung, ins Vinmonopol zu gehen, obgleich sie das nie sagt, es immer nur wie eine stille Frage zwischen ihrem und seinem Telefon hängen lässt, als würde sie von ihm erwarten, dass er sie ohne Worte versteht. Und das tut er ja auch. Vielleicht deswegen.
»Okay«, sagt er. »Ich komme bald mal wieder bei dir vorbei. Ich weiß nicht, ob ich
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