Sterblich
kann, er sieht ihn erschrocken an, als Brogeland sich an ihm vorbeischiebt, innerlich darauf vorbereitet, jeden Moment in die Mündung einer Pistole zu blicken; seine Bewegungen sind geschmeidig, schnell, er scannt die Wohnung, registriert einen würzigen Duft, einen Hauch Marihuana, guckt durch eine Tür in eine leere Küche und läuft weiter. Er sieht ein Schlafzimmer, ebenfalls leer, das Wohnzimmer und dann den Kamin, in dem ein helles Feuer brennt, aber nicht die Flammen machen ihm Sorgen, sondern das, was die Flammen gierig zu verschlingen versuchen, setzt ihn für den Bruchteil einer Sekunde außer Gefecht, ein Computer, ein Laptop, er ruft Sandland zu, dass sie ihn sichern soll, während er sich um Marhoni kümmert, seine Stimme strahlt Stärke aus, Erfahrung, Schneid, Autorität, alles, was es braucht, um solche spontanen Aktionen durchzuziehen, er hört Sandland reagieren, als er sieht, wie Marhoni in einem ans Wohnzimmer angrenzenden Raum Anlauf nimmt, sich abstößt und durch das Fenster nach draußen springt, Brogeland rennt hinterher, ist schnell beim Fenster und wirft einen Blick nach draußen, ehe er aufs Fensterbrett klettert, es sind kaum zwei Meter bis nach unten, er stößt sich ab und landet weich, orientiert sich, sieht Marhoni und läuft hinter ihm her, das hättest du nicht tun sollen, denkt er, du Idiot, du kannst doch nicht an dem Tag, an dem die Leiche deiner Freundin gefunden wird, aus deiner eigenen Wohnung fliehen, wie sieht denn das aus, du Schwachkopf? Brogeland mobilisiert seine Kraftreserven und weiß schon im Voraus, dass er leichtes Spiel haben wird, denn Marhoni dreht sich immer öfter um, während Brogeland Meter um Meter aufholt, Marhoni läuft über die Kreuzung Bispegata/Oslogaten, ohne auf Grün zu warten, ein Auto kann gerade noch bremsen, der Fahrer drückt auf die Hupe, Brogeland stürmt dem Flüchtigen nach, hört dicht hinter sich die Straßenbahn, Drrring-drrring , die Autos, und sieht die Menschen hinter den Scheiben, die neugierig die Jagd verfolgen. Bestimmt fragen sie sich, was da wieder los ist, drehen die einen Film, oder ist das echt, Brogeland denkt, dass der fliehende Idiot vor ihm offensichtlich publikumsgeil ist, sonst wäre er doch schlauerweise in einen der Hinterhöfe neben der Aker-Kirche gelaufen, jetzt ist er nur noch zehn Meter hinter Marhoni, und der Abstand verringert sich stetig, schließlich wirft er sich mit einem Satz auf Marhoni und umklammert seinen Oberkörper, sodass sie beide auf den Asphalt vor der Cafébar Ruinenstürzen.
Brogeland tut sich bei dem Sturz nicht weh, denn Marhoni fängt seinen Fall ab. Vor dem Café sitzt ein Mann und raucht. Er sieht zu, wie Brogeland sich auf Marhonis Rücken setzt, seine Arme nach hinten biegt und ihm Handschellen anlegt, ehe er die Einsatzzentrale alarmiert.
»19, hier Fox 43 Bravo, over.«
Er atmet tief ein, während er auf die Antwort wartet.
»19 antwortet, over.«
»Hier Fox 43 Bravo, ich bin auf dem St. Halvards plass, habe eine Person festgenommen und brauche schnell Verstärkung von einer Streife. Over.«
Er sieht auf Marhoni herunter, der auf dem Boden liegt und nach Luft schnappt. Brogeland schüttelt den Kopf.
»Verdammter Idiot«, brummt er.
12
Die Westerdals School of Communication liegt im Fredensborgveien, unweit des kleinen Parks St. Hanshaugen. Jedes Mal, wenn er in diesem Stadtteil ist, überkommt ihn das Gefühl, dass hier jemand bei der Stadtplanung massiv versagt hat. Nur durch schmale Passagen voneinander getrennt liegen asphaltgraue Wohnblöcke aus den Fünfzigerjahren neben bunt bemalten, charmanten kleinen Häuschen aus einer fernen Vergangenheit. Die steil ansteigende Damstredet erinnert ihn immer an das Altstadtviertel in Bergen, während die Gebäude, die die Straße hinunter ins Zentrum säumen, nach kommunalpolitischen Maßnahmen schreien. Hier dröhnt unablässig der Verkehr, und über dem Asphalt und den wenigen Gärten, die es gibt, wabern Wolken aus Abgasen, Dreck und Staub.
Das sieht er in diesem Augenblick aber alles nicht.
Zahllose Menschen stehen um den großen Baum herum, der vor dem Eingang der Schule wächst. Freunde umarmen sich schweigend. Andere weinen. Er geht näher heran und erkennt Kollegen, die mit den gleichen Absichten wie er gekommen sind, ignoriert sie aber. Er weiß, wie die morgigen Zeitungen aussehen werden. Bilder von Trauernden, viele Fotos, wenig Text. Dies ist die Zeit für Gefühle, die Leser sollen teilhaben an der Trauer, an der
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