Sterblich
schon wieder aufgelegt. Er schnaubt verächtlich und starrt auf sein Handy. Anschließend lässt er sich extra viel Zeit für den Rückweg.
Er wechselt die Batterien der Rauchmelder, sobald er in die Wohnung kommt, und setzt sich zum Schreiben aufs Sofa. Auf dem Rückweg hat er sich Gedanken darüber gemacht, wie er die Sache angehen will. Der Artikel sollte relativ schnell erledigt sein. Vielleicht schafft er es dann auch noch nach Dælenenga, um sich das letzte Training anzuschauen, bevor es zu spät ist. Das Aufwendigste würde es sein, das Bildmaterial zu laden und zu bearbeiten, bevor er es an die Redaktion schicken kann. Er will kein Risiko eingehen, sich noch einmal seine Bilder kaputt machen zu lassen.
Vor vielleicht sechs oder sieben Jahren, er erinnert sich nicht mehr genau an das Datum, war eine Frau in Grorud brutal ermordet worden. Man hatte sie in einem Container gefunden. Er hatte damals unzählige Bilder gemacht und sie als unbearbeitetes Rohmaterial an die Redaktion von Aftenposten geschickt, da die renommierte Zeitung früh in den Druck musste. Er hatte klipp und klar gesagt, welche Bilder verwendet werden konnten und welche nicht, jedenfalls nicht ohne die Einwilligung der Angehörigen, von denen einige zum Tatort gekommen waren und hinter der Absperrung gewartet hatten. Zudem hatte er gefordert, die Seite noch einmal zu sehen, bevor sie gedruckt wurde.
Im Laufe des Abends hatte sich aber niemand bei ihm gemeldet, und auch er war nicht mehr dazu gekommen, noch einmal nachzufragen. Mit dem Resultat, dass der Artikel am nächsten Tag nicht nur falsch bebildert, sondern auch noch mit einer fehlerhaften Legende versehen war. Die Konsequenz war ein schrecklicher Canossagang gewesen. Doch jeder Versuch, sich bei den Angehörigen zu entschuldigen, verpuffte, da sie schlicht und einfach nicht mit ihm reden wollten. »Schieben Sie die Schuld nur auf die Redaktion«, sagten sie sarkastisch.
Bei Journalisten ist es auch nicht anders als in anderen Berufen. Man muss sich erst ein paarmal die Finger verbrennen, bevor man die wichtigen Sachen gelernt hat. Ein guter Freund von ihm hat ganz am Anfang seines Medizinstudiums zu hören bekommen, dass man kein guter Arzt wird, ehe man nicht den ersten Friedhof gefüllt hat. Man lernt während der Arbeit, passt sich an, erwirbt neues Wissen, erarbeitet sich neue Technologien und passt sich wieder an. Das Gleiche gilt für neue Kollegen. Auch deren Fähigkeiten muss man erst kennenlernen und sich an sie anpassen. Das alles ist ein kontinuierlicher Prozess.
Er startet Photoshop und lädt die Bilder. Trauer, Künstlichkeit und noch mehr abgerungene Tränen. Und dann Anette. Er klickt das Bild an, das er von ihr gemacht hat. Selbst auf dem 15,6 Zoll großen Bildschirm treten alle Details messerscharf hervor. Beim raschen Durchklicken der Fotos wird es noch deutlicher. Anette sieht sich um, als würde sie sich beobachtet fühlen, dann ist sie aber doch einen Moment ganz bei Henriette. Das Ganze dauert nur wenige Sekunden, aber die hat er eingefangen.
Anette, denkt er. Wovor hast du Angst?
Er braucht länger, als er dachte, um den Artikel zu schreiben und an die Redaktion zu übermitteln. Die Sätze kommen nicht so leicht, wie er hofft. Und er wünscht sich, dass Heidi zu Hause hockt und sich darüber aufregt, dass es so lange dauert.
Er sieht auf die Uhr. Halb neun. Zu spät für Dælenenga.
Er seufzt und lehnt sich auf seinem Sofa zurück. Ich sollte mal wieder bei Mama vorbeigehen, denkt er. Es ist schon ein paar Tage her, seit er das letzte Mal bei ihr gewesen ist. Bestimmt ist sie beleidigt. Aber sie ist irgendwie immer beleidigt, solange er zurückdenken kann.
Christine Juul wohnt seit vier Jahren in einer Zweizimmerwohnung in der Helgesens gate. In einem dieser neuen Wohnprojekte, die anfänglich überteuert waren, dann aber schnell an Wert verloren. Davon gibt es reichlich in Grünerløkka.
Vorher wohnte sie in Kløfta. Dort ist Henning auch aufgewachsen, aber irgendwann war ihr der Ort zu weit von Henning und Trine entfernt. Sie wollte näher bei ihren Kindern sein, wohlbemerkt nur, damit die Kinder sich um sie kümmern konnten. Sie hat fast ihren ganzen Besitz durchgebracht, um dann in eine Wohnung ohne jede Persönlichkeit zu ziehen. Die Wände sind kahl und weiß, mit einem Grauschleier von all dem Qualm, den sie jeden Tag in die Luft bläst. Aber nicht deshalb ist sie beleidigt.
Christine Juul war eigentlich mit dem, was das Leben ihr zugedacht
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