Sterblich
war richtig happy, als ich ihn gefragt habe, ob ich seinen Film drehen dürfte. Er ist ein netter Kerl, smart. Aber auch gefährlich. Mir ist schon klar gewesen, dass er nicht ganz richtig tickt.«
»Was wollen Sie damit sagen? Wieso ist Ihnen das klar gewesen?«
»Ach, ich weiß nicht. Das ist etwas schwierig zu erklären. Vermutlich muss man einige Zeit mit ihm verbracht haben, um das zu merken. Es gibt Phasen, da ist er supergut drauf. Da lacht er über alles und ist höllisch aufgedreht. Aber an anderen Tagen kriegt er wieder kaum ein Wort raus und igelt sich völlig ein.«
Henning nickt, denkt, dass das zu einem Jungen passt, der sich selbst das Leben nimmt, nachdem er ein anderes beendet hat. Vielleicht ist die Bürde zu schwer geworden, die Erinnerungen zu erdrückend. Vielleicht konnte er abends nicht mehr die Augen zumachen, ohne daran zu denken, was er getan hatte, und sie vor sich zu sehen, tot.
Vielleicht war tatsächlich nichts Verdächtiges an dem Todesfall. Aber wieso sind dann seine Eltern verschwunden?
In dem Augenblick fängt es zu regnen an. Der Himmel öffnet im Laufe weniger Sekunden alle Schleusen. Sie sind nicht die Einzigen, die auf die Tür zuströmen, sodass es eine Weile dauert, bis sich alle ins Trockene geflüchtet haben.
Die Leute lächeln sich an, während sie sich die dicken Tropfen abwischen und von den Schuhen trampeln. Anette wuschelt sich mit den Fingern durch die nassen Haare. Sie stellen sich neben den Empfang. Dreads ist auch wieder da, während von seiner Freundin jede Spur fehlt. Er begegnet Hennings Blick. Sie nicken sich zu.
Anette und Henning bleiben ein paar Meter abseits der anderen stehen. Dreads tippt auf seiner Computertastatur herum.
»Haben Sie Yngve heute schon hier gesehen?«, fragt Henning Anette mit leiser Stimme.
Sie schüttelt den Kopf: »Nein.«
»Yngve hat heute frei.«
Sie drehen sich beide um und sehen Dreads an.
»Yngve und seine Frau haben sich heute freigenommen«, sagt er mit erhobenen Händen. »Sorry, aber ich hab Ihre Frage mitbekommen. War keine Absicht. Yngve hat heute Morgen angerufen, eigentlich wollte er den Rektor sprechen, aber der war noch nicht da, also hab ich die Mitteilung entgegengenommen. Er meinte, dass er und seine Frau heute nicht zur Arbeit kommen würden.«
»Das ist aber komisch«, sagt Anette. »Ich habe gleich einen Termin bei ihm. Hat er gesagt, warum er nicht kommt?«
Henning ist drauf und dran, ihr zu sagen, dass ihr Sohn tot ist, aber im letzen Moment fällt ihm ein, dass das noch gar nicht öffentlich bekannt ist.
»Er hat gesagt, sie wollen einen Ausflug machen«, antwortet Dreads.
»Einen Ausflug?«
»Ja. Er hat irgendwas von einer Zelttour gesagt.«
»Eine Zelttour?«
Henning erschrickt selbst über seine laute Stimme.
»Ja.«
Sein Magen zieht sich zusammen. Das Normalste wäre doch wohl gewesen zu sagen, dass sein Sohn gestorben ist und sie erst einmal Zeit für sich brauchen, ehe sie wieder zur Arbeit kommen. Dafür hätte jeder Verständnis. Warum also die Entschuldigung mit der Zelttour?
»Wieso hat er Ihnen das gesagt?«
»Na ja, er wollte wohl eine Nachricht hinterlassen, denke ich. Falls jemand nach ihm oder seiner Frau fragt. Was weiß denn ich … Er hörte sich jedenfalls irgendwie – wie soll ich es sagen – verwirrt an. Oder aufgeregt, ich weiß nicht recht.«
»Inwiefern? Woran machen Sie das fest?«
»Wenn ich ihn nicht kennen würde, hätte ich gesagt, dass er was eingeworfen hat. Er hat viel schneller gesprochen als sonst.«
»Hat er gesagt, wohin der Ausflug gehen sollte?«
»Nein, nur dass sie eine Zelttour machen wollen. Das hat mich ein bisschen stutzig gemacht, ich hätte nie gedacht, dass Yngve der Typ ist, der gern zeltet und so, aber ich dachte – na ja, was soll’s, zelten ist doch geil, also …«
Er breitet die Arme aus.
»Wann heute Morgen war das?«
»Kurz nach acht, glaube ich. Ich kann mich nicht hundertprozentig erinnern, hatte meinen Morgenkaffee noch nicht getrunken.«
»Scheiße«, sagt Henning leise, aber Anette hört es.
»Was ist los?«
Er schüttelt den Kopf, dreht sich zu ihr um und flüstert, damit Dreads ihn nicht hört: »Die Polizei sucht nach ihnen, und keiner weiß, wo sie sind.«
»Warum das denn? Glauben Sie, dass …«
Er sieht sie scharf an. Sie begreift sofort, tritt einen Schritt näher an ihn heran und flüstert: »Glauben Sie, die beiden wissen, dass Stefan Henriette umgebracht hat?«
Er weiß, was er am liebsten antworten
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