Sterblich
würde, schüttelt aber den Kopf.
»Keine Ahnung.«
»Und jetzt sind sie weg? Verschwunden?«
»Anscheinend.«
Sie bleiben stehen, ohne etwas zu sagen. Da hat Henning plötzlich eine Idee. Er dreht sich wieder zu Dreads um.
»Sie wissen nicht zufällig, ob das Zelt noch immer auf dem Ekeberg steht?«
»Das Filmzelt? Ja. Die Polizei hat dort gestern ihre Ermittlungen abgeschlossen, die haben jetzt alles an Fotos und Beweisen und so und brauchen das Zelt nicht mehr. Sie haben angerufen und gesagt, dass wir es abbauen können.«
Das ist der Ort, an dem sie sein müssen. Er schaut nach draußen. Bei dem Regen wird er klitschnass werden. Aber ein Taxi kommt nicht infrage.
»Kann ich Sie fahren?«
Er sieht Anette kurz an.
»Haben Sie ein Auto?«
»Ja. Warum sollte ich keins haben?«
Ja, denkt er, wieso sollte sie keins haben.
»Und Sie haben jetzt auch keinen Unterricht?«
»Wie gesagt, eigentlich habe ich einen Termin mit Yngve, aber da er nicht hier ist …«
Sie breitet die Arme aus.
»Und wenn er irgendwo ist und Sie wissen, wo und wieso, beteilige ich mich gerne als Fahrer. No big deal . Ich fahr Sie gern da hoch.«
Der Gedanke ist so verlockend, dass er ihn nicht ablehnen kann.
»Steht Ihr Auto in der Nähe?«
»Gleich da drüben«, sagt sie und zeigt über seinen Kopf.
»Okay. Gehen wir.«
63
Es ist nicht weit von der Schule bis zum Parkplatz, aber trotzdem sind sie klitschnass, als sie das Auto erreichen. Anette öffnet die Tür auf ihrer Seite des Wagens, ehe sie Henning einsteigen lässt. Er setzt sich in einen kleinen, dunkelblauen Polo, der trotz seines Alters von mindestens fünfzehn Jahren in einem recht guten Zustand ist. Das Auto ist für ein Frauenauto erstaunlich geruchsfrei, er hatte ohnehin schon vorher den Eindruck, dass Anette sich nicht viel aus Parfüm macht.
Sie startet den Motor, schaltet die Scheibenwischer auf die höchste Stufe und setzt rückwärts aus der Parklücke. Bevor sie losfährt, bleibt sie einen Moment im Leerlauf stehen und sieht ihn an. Das hastige Wischen der Scheibenwischer mischt sich mit dem Jammern des noch kalten Motors.
»Was geht hier eigentlich vor?«, fragt sie.
Er seufzt. Ich kann ihr nicht von Stefan erzählen, denkt er. Ich habe nicht die Befugnis, so etwas weiterzugeben.
»Ich muss mit den Foldviks reden.«
»Mit beiden?«
»Ja.«
»Warum denn? Hat das was mit Stefan zu tun? Oder mit Henriette?«
Er nickt.
»Ich weiß nur noch nicht, was. Oder wie genau alles zusammenhängt.«
Ziemlich kryptisch, was er da sagt, denkt er. Aber auch wahr. Er hat keine Ahnung, was vor sich geht oder was er sagen soll, wenn er sie trifft. Andererseits hat er das Gefühl, dass er sie finden muss und das schnell.
»Bitte, Anette, können wir fahren? Okay? Hinterher kann ich Ihnen alles erklären. Im Augenblick haben wir, glaube ich, nicht die Zeit zu diskutieren.«
Anette sieht ihn an und lässt ein paar Sekunden verstreichen. Dann legt sie den ersten Gang ein und fährt los.
Sie fahren auf den Fredensborgveien. Ich sollte Brogeland anrufen, denkt er, und ihm von meiner Vermutung erzählen. Aber das geht nicht. Nicht jetzt.
Sie fahren und schweigen. Ihm ist die Stille ganz recht, so kann er seine Gedanken sortieren. Anette fährt vorsichtig, nicht übervorsichtig, sondern angemessen und ohne hektische Beschleunigungen oder Bremsmanöver. Als sie den Wagen über die kurvige Straße manövriert, vorbei an den alten Räumlichkeiten der Handelshochschule und dem Ekebergrestaurant auf der anderen Seite des Hangs, gleitet sein Blick auf den Oslofjord mit den vielen Inseln. Im Hafen liegen die Fähren. Ein paar Privatjachten haben sich trotz des Regens aufs Wasser hinausgewagt. Sie überholen einen bedauernswerten Fahrradfahrer, der sich nicht einmal mehr um das Spritzwasser schert, das ihm von Anettes Reifen an die Beine klatscht.
Während der Regen aufs Dach trommelt, denkt er an Stefan. Er sieht ihn vor sich, im Zelt, die Hand mit dem Stein über den Kopf erhoben, das Gesicht wutverzerrt, und er kann nicht eher aufhören, bis alles Leben in Henriettes Körper zerschmettert ist, er ihren Rücken ausgepeitscht und ihr eine Hand abgehackt hat. Aber wo kommt all diese Wut her? Und warum die Hadd-Strafen?
Er muss an das Bild von Stefan auf dem Schreibtisch seines Vaters denken, an den Zeitungsartikel und daran, was dort geschrieben stand. Und nachdem er noch einmal den Ablauf durchgegangen ist und mit dem verglichen hat, was in dem Artikel stand, fallen
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