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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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plötzlich alle Steinchen an ihren Platz.
    Verdammt.
    Sie brauchen knapp zehn Minuten von der Westerdals School zum Ekeberg. Als sie an der großen Wiese entlangfahren, sieht er das weiße Zelt. Als Anette durch die Mautstation fährt, bittet er sie, an der Bushaltestelle dahinter anzuhalten. Sie macht, was er anordnet.
    »Danke fürs Mitnehmen«, sagt er und legt die Hand auf den Türgriff.
    »Aber …«
    »Anette, das ist im Moment nicht der richtige Ort für Sie. Fahren Sie einfach weiter, aber danke, dass Sie mich hergebracht haben.«
    Anette will noch etwas sagen, verfällt dann aber in Gedanken.
    »Ich werde dann wohl später etwas drüber lesen können«, sagt sie und lächelt kurz.
    Vielleicht, denkt er, steigt aus und macht energisch die Tür hinter sich zu. Sofort prasselt der Regen wieder auf seinen Kopf. Es wäre völlig sinnlos, irgendwie zu versuchen, sich zu schützen.
    Er sieht, wie Anette davonfährt, und tritt auf den asphaltierten Weg, der sich in Richtung Schule über die weite, fast ebene Wiese schlängelt. Es ist niemand zu sehen, weder auf dem Schulhof noch sonst irgendwo auf der Wiese. Er sieht auch keine Autos in der Nähe des Zelts parken. Sollte ich mich geirrt haben?, denkt er. Sind sie doch nicht hier?
    Es kommt ihm vor, als würde er sich an jemanden anschleichen, wie beim Äpfelklauen. Er geht auf die Öffnung des Zelts zu, bleibt dann jedoch abrupt stehen. Was war das? Eine Stimme? Da, schon wieder. Durch das monotone Rauschen des Regens ist ein Stöhnen zu hören. Er lauscht, hört Bewegungen, ein weiteres Stöhnen. Er schleicht näher heran. Die Geräusche scheinen nur von einem Menschen zu stammen, nicht von zweien. Er sieht sich um. Es ist niemand zu sehen.
    Verdammt, denkt Henning. Was willst du eigentlich sagen, wenn du da reingehst? »Hallo, ich bin Henning Juul von 123nyheter . Darf ich Sie um ein Interview bitten?«
    Scheiße! Er dreht sich noch einmal um. Niemand zu sehen. Der Regen trommelt auf das Zeltdach. Er sieht auf die Uhr. Es ist kurz nach zwölf. Ihm schießt durch den Kopf, dass er vor einer halben Stunde im Präsidium hätte sein sollen. Vielleicht wartet Brogeland. Nein. Dann hätte er wohl angerufen. Und mit dem Marhoni-Verhör, Stefans verdächtigem Tod und Foldviks Verschwinden hätten sie ihn heute vermutlich sowieso nicht vernehmen können.
    Ich gehe jetzt da rein, sagt er zu sich selbst. Egal, was passiert.
    Er bückt sich zum Reißverschluss hinunter, zieht ihn in einer gleichmäßigen Bewegung auf und blickt ins Zeltinnere. Zuerst traut er seinen Augen nicht. Dann wird das Bild immer klarer. Ingvild Foldvik hält einen Spaten in der Hand. Zu ihren Füßen liegen Steine, große und kleine Steine. Sie sieht Henning entsetzt an, und er erwidert ihren Blick nicht minder fassungslos.
    Dann sieht er das Loch im Boden. Yngve Foldvik steckt darin. Und an seinem Hals leuchten die roten Spuren einer Stun Gun.

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    Sein Atem stockt, ist kaum zu kontrollieren. Er streckt die Arme nach vorn. Aus seinen Haaren tropft Wasser. Er wischt sich mit einer Hand rasch über das Gesicht und tritt einen Schritt vor. Es riecht muffig. Der Regen prasselt dröhnend auf die Zeltplane, die nicht alle Tropfen abhält. Das Gras ist auch drinnen feucht. Er sieht Ingvild Foldvik an, blickt ihr in die Augen. Sie sind weit aufgerissen und starr und strahlen eine Distanz aus, wie er sie von psychisch kranken Menschen kennt.
    »Beruhigen Sie sich«, sagt er und erkennt im gleichen Moment, wie banal das klingt. Immerhin steht sie mit einem Spaten in der Hand vor ihm, neben sich einen Haufen Steine. Man braucht nicht viel Fantasie, um sich auszurechnen, was sie damit vorhat.
    Sie ist deutlich dünner als beim letzten Mal. Viele Kilos. Dabei ist sie schon dünn gewesen, als er sie im Zeugenstand gesehen hat. Jetzt ist sie nur noch Haut und Knochen. Die Kleider hängen wie leere Säcke an ihrem Körper herab, und sie sieht mindestens zehn Jahre älter aus. Ihre Haut ist aufgedunsen, die Zähne gelb von Nikotin, das angegraute Haar in einem flüchtigen Pferdeschwanz zusammengefasst, aus dem nasse Strähnen in das blasse, schmale Gesicht mit den dunklen Ringen unter den Augen hängen. Eine lebende Tote, denkt er.
    »W … wer sind Sie?«, stottert sie. Er blickt zu Yngve, der in dem Loch hockt. Sein Kopf hängt schlaff zur Seite. Aber er atmet.
    »Ich heiße Henning Juul«, sagt er mit so beherrschter Stimme wie nur möglich und erkennt, dass sein Name ihr nichts sagt.
    »Ich habe damals über

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