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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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hatte, ganz zufrieden gewesen, wie Henning glaubt. Bis ihr Mann starb. Ein guter Job als Krankenschwester, eine allem Anschein nach glückliche Ehe, gesunde, erfolgreiche Kinder, ein paar Freunde, die sie sehr schätzte, und auch ein Chor und ein Weinkennerverein, auf deren Treffen sie sich freute. Nach Jakob Juuls plötzlichem Tod aber begann sie, sich irgendwie aufzulösen. Quasi über Nacht.
    Henning und Trine waren damals noch Teenager, begriffen aber schnell, dass sie von nun an allein auf sich gestellt waren. Sie mussten einkaufen, Essen kochen, Rasenmähen, Hecken schneiden, Kleider waschen, das Haus putzen und sich selbst darum kümmern, dass sie rechtzeitig zum Fußballtraining und zu den Spielen kamen, zur Schule und zur Hütte in den Ferien. Brauchten sie Hilfe in der Schule, mussten sie ihren Nachbarn fragen. Oder eben ohne Hilfe auskommen.
    Denn Christine Juul hatte plötzlich einen neuen Freund.
    St. Hallvard. Einen süßen Kräuterlikör auf Basis von Wodka, hochprozentig genug, um eine betrübte Seele vollständig zu betäuben. Inzwischen füllt Henning ihren Barschrank im Wochenrhythmus auf. Mit mindestens zwei Flaschen. Bei einer Flasche ist sie beleidigt.
    Er hat viel darüber nachgedacht und ist irgendwann zu dem Schluss gekommen, dass er ihr nicht im Weg stehen will, wenn sie sich zu Tode saufen möchte. Seine Hochzeit hat sie nicht sonderlich interessiert, und bei der Taufe von Jonas war sie auch nur eine Stunde anwesend. Nach Jonas’ Tod hat sie noch nicht einmal geweint, aber sie ist immerhin auf der Beerdigung aufgetaucht. Sie ist als eine der Letzten gekommen und ganz hinten stehen geblieben. Sobald die Zeremonie vorüber war, hat sie die Kirche gleich wieder verlassen. In der ganzen Zeit, in der im Haukeland-Krankenhaus seine Brandwunden behandelt wurden, hat sie ihn nicht ein einziges Mal besucht oder auch nur angerufen und sich nach seinem Zustand erkundigt. Als er dann nach Sunnaas gebracht wurde, ist sie zweimal gekommen, beide Male aber nicht länger als eine halbe Stunde geblieben. Bei diesen Besuchen hat sie ihn kaum angesehen und fast kein Wort gesprochen.
    Likör, Marlboro Lights und Frau im Spiegel .
    Er hat weder die Kraft noch den Antrieb, ihr diese drei Freuden zu versagen, auch wenn sie erst zweiundsechzig Jahre alt ist. Sie isst kaum etwas, obgleich er regelmäßig ihren Kühlschrank auffüllt und sich Mühe gibt, ausgewogen und abwechslungsreich für sie einzukaufen, damit sie Proteine, Kalzium und Ballaststoffe bekommt.
    Manchmal kocht er sogar für sie, setzt sich zu ihr an den kleinen Küchentisch und isst mit ihr. Wortlos. Dann hören sie Radio. Henning mag Radio. Besonders, wenn er bei seiner Mutter ist.
    Er weiß nicht, warum sie so wütend auf ihn ist. Vermutlich weil nichts aus ihm geworden ist, nicht wie aus seiner Schwester, der Justizministerin Trine Juul-Osmundsen. Sie scheint ihren Job wirklich gut zu meistern. Ist sehr beliebt bei der Polizei. Diese Informationen hat er von seiner Mutter.
    Er hat keinen Kontakt zu seiner Schwester. Sie will das so. Es ist lange her, dass er den letzten Versuch unternommen hat, mit ihr zu reden. Eigentlich weiß er nicht, warum sich das so entwickelt hat; irgendwann in ihrer Jugend hat Trine plötzlich aufgehört, mit ihm zu reden, und mit achtzehn ist sie dann von zu Hause ausgezogen und nie wieder zurückgekehrt, nicht einmal zu Weihnachten. Aber geschrieben hat sie, ihrer Mutter, nur ihrer Mutter. Henning wurde nicht einmal zu ihrer Hochzeit eingeladen.
    Familie Juul. Nicht gerade eine Durchschnittsfamilie. Aber die einzige, die er hat.

17
    Sein Blick fällt auf das Klavier an der Wand. Früher liebte er es, Klavier zu spielen, jetzt weiß er nicht einmal mehr, ob er es noch könnte. Das hat nichts mit seinen Händen zu tun. Seine Finger sind voll funktionsfähig, auch wenn sie übersät sind von Narben.
    Er erinnert sich noch an den Abend, an dem er erfahren hat, dass Nora schwanger war. Kurz nach der Hochzeit waren sie sich einig gewesen, dass sie ein Kind wollten. Sie hatten von so vielen gehört, die jahrelang erfolglos versucht hatten, schwanger zu werden. Bei ihnen hat es fast beim ersten Versuch geklappt.
    Er saß damals an seinem Schreibtisch und arbeitete an einem Artikel, als Nora hereinkam. Ihr Gesicht ließ deutlich erkennen, dass etwas geschehen war. Sie war nervös, aber glücklich. Voller Angst und Ehrfurcht vor dem, was sie in Gang gesetzt hatten, und vor der Verantwortung, die sie offenen Auges auf sich

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