Jäger des Einhorns
1.
In dieser Nacht fing er an, sich wirklich zu fürchten. Er horchte auf die schweren Atemzüge der Männer, die wie er im stinkenden, feuchten Stroh des Kerkers lagen und zu schlafen versuchten. Er hielt den Kopf des Schiffsjungen im Schoß und wischte mit einem Zipfel seines Mantels dessen Stirn ab. Der Junge phantasierte im Fiebertraum. Jeder von ihnen hungerte, war verdreckt und stöhnte vor Schmerz. Die dunkelhäutigen Männer mit ihren schrecklichen Masken verstanden ihr Handwerk, die Folterung. Ein langer Weg führte von Logghard in diesen stinkenden Keller voller Ratten und Ketten .
Er, der Seemann, der keinen Sturm, und kein Meeresungeheuer fürchtete, hatte Angst vor dem Tod in dieser seltsamen Stadt .
*
Die Stolz von Logghard legte schwer über. Eine Sturzflut brach über den Vordersteven und überflutete das Deck. Die Männer hielten sich an Tauen fest; der Sturm gurgelte und heulte durch Tauwerk und Takelage. Die Wand der Dunkelzone war nicht mehr zu sehen; das Gewitter wirbelte im Süden und Osten riesige schwarze Wolken mit sich.
»Steuerbord!« schrie Kapitän Ergyse. »Refft das Segel, aber geht nicht über Bord!«
Die drei Schiffe, die von Casson als Vorhut zu den Inseln geschickt worden waren, wurden von dem plötzlich einsetzenden Sturm überrascht.
Kaum, daß die Männer die weißen Strände, den Gischt der Brandung und die grünen Kuppen der Inseln entdeckt hatten, fuhr der erste Blitz aus blauem Himmel nieder.
»Achtet auf die Felsen!« kam es vom Ausguck.
Der Steuermann stemmte sich gegen das Ruder. Mitten am Tag senkte sich eine fahle Dunkelheit über das Wasser. Wo war das Segel der Splitterfelsen ?
Irgendwo dort vorn, in dem nassen Chaos aus Wellen, Regen und tückischen Unterwasserfelsen, wurde dieses Schiff ebenso herumgewirbelt wie die beiden anderen Späherschiffe. Schlagartig war es kalt geworden. Die schweren Wassertropfen, die der Sturm fast waagrecht durch die Luft peitschte, schlugen wie Nadeln in die Haut der Seeleute und Soldaten. Ergyse wischte das salzige Wasser aus seinen Augen und brüllte:
»Wir müssen hinaus, ins freie Wasser!«
»Ich tue, was ich kann.« Wieviel Tagesreisen hinter den Späherschiffen segelte die Flotte des Shallad Luxon? War auch Casson, sein Piratenkapitän, in diesen Sturm geraten? Ergyses Blick fiel über die Bordwand. Er sah den Felsen auftauchen, umschäumt von weißen Wellen, gefährlich nahe. Dann war sein Schiff daran vorbei, und es wurde von einer gewaltigen Woge nach Backbord geschleudert. Blitz folgte auf Blitz. Die Felswände der Inseln, die in Regen und Dunkelheit unsichtbar geworden waren, warfen die Echos der Donnerschläge zurück. Wieder klammerte sich der Kapitän fest und spähte ins Wasser. Es wurde dunkelgrün und schwarz. Das Schiff schien sich im freien Wasser zu befinden.
»Geradeaus!« dröhnte Ergyses Stimme.
»Beim besoffenen Kraken«, schrie der Steuermann voller Erleichterung. »Geradeaus! Liegt an, Käpten!«
Die Stolz von Logghard schwang sich auf eine Riesenwelle, hob den Bug, tauchte das Heck ein und jagte mit geblähten Segeln davon. Vergessen war für einen Augenblick das Schicksal der Splitterfelsen und der Doppelaxt .
Stunde um Stunde verging.
Das Gewitter drehte sich hierhin und dorthin. Planken knarrten, und die Donnerschläge wetteiferten mit dem Schreien und Fluchen der Männer. Das Schiff schwang hin und her, ritt aber noch immer auf der laufenden Welle.
Für einige Atemzüge kam der Kapitän, der die Stöße mit schmerzenden Knien abfing, dazu, seine Lage zu überdenken.
Von der Sicherheit der großen Flotte getrennt, in unbekannten Gewässern und zwischen fremden Inseln, hungernd und frierend, ohne Schlaf und ständig von der Dunkelzone bedroht, segelten die Schiffe nach Westen. Ob ein Eingeborener der Inseln die Segel der fremden Schiffe gesehen hatte, vermochte niemand zu sagen.
Zwischen Morgen und Mittag hatte dieser entsetzliche Wettersturm angefangen.
Ergyse schätzte, daß fünf Stunden vergangen waren. Irgendwo entstand ein Spalt in den schwarzen Wolken. Wie ein Speer zuckte ein breiter Balken Sonnenlicht aufs Meer hinab.
Ein letzter Donner grollte über das Wasser dahin. Statt Dunkelheit gab es wieder Farben. Der Wind riß das Schiff nach Südwest.
»Wo sind wir?« fragte der Steuermann.
Sie konnten ein großes Gebiet überblicken. An Steuerbord blieben die Konturen der Inseln zurück. Eine langgezogene Küstenlinie war dort zu erkennen, in deren Mitte sich schroffe Berge erhoben.
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