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Sterblich

Sterblich

Titel: Sterblich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Enger
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Kjus mitteilen sollte, was passiert ist, aber ehe er den Gedanken zu Ende spinnen kann, geht die Tür zum Wartezimmer auf. Eine große Polizeibeamtin mit kurzen Haaren betritt den Raum und sieht ihn an.
    »Ella Sandland«, stellt sie sich vor und streckt ihm die Hand entgegen. Henning steht auf, ergreift ihre Hand und nickt kurz. Bjarne Brogeland, der gleich hinter ihr kommt, verschlingt sie mit Blicken, ehe er seinen alten Mitschüler entdeckt und breit grinst.
    »Hallo, Henning.«
    Augenblicklich ist es wieder da, dieses Gefühl, das er schon in seiner Jugend in der Nähe von Bjarne hatte. Dieses Gefühl: »Ich mag dich nicht.« Sicher hat das nichts mehr mit Trine zu tun, manche Dinge scheinen einfach nicht zu verjähren.
    Ella Sandland setzt sich ihm gegenüber an den Tisch. Bjarne geht auf Henning zu und reicht ihm ebenfalls die Hand. Bjarne hat sicher schon Hunderte solcher Vernehmungen geführt, denkt Henning, mit den unterschiedlichsten Menschen, aber trotz des sicher guten Trainings ist sie da, die winzige Veränderung im Gesicht seines Gegenübers, die Henning schon so oft gesehen hat, nur meist viel deutlicher. Brogeland hat sich gleich wieder im Griff und versucht, lässig zu wirken, aber Henning hat das Zucken bemerkt, als Bjarne die Narben gesehen hat.
    Sie geben sich die Hand. Ein ziemlicher Zangengriff.
    »Verdammt, Henning«, sagt Brogeland und setzt sich. »Lang ist’s her. Wie lange haben wir uns nicht gesehen?«
    Jovialer Ton, freundlich, kameradschaftlich. Obwohl sie sich zeitgleich an der Polizeischule beworben haben, hatten sie damals nichts miteinander zu tun.
    »Fünfzehn, zwanzig Jahre vielleicht?«, antwortet Henning.
    »Ja, mindestens.«
    Schweigen. Eigentlich hat er nichts gegen Schweigen, aber jetzt rufen die Wände nach Lauten.
    »Schön, dich wiederzusehen, Henning.«
    Er kann nicht unbedingt das Gleiche von Bjarne behaupten, trotzdem antwortet er: »Ebenso.«
    »Ich würde nur wünschen, die Umstände wären andere. Wir haben eine Menge zu bereden.«
    Haben wir das?, wundert sich Henning im Stillen. Ja, vielleicht. Aber er sieht Brogeland an, ohne etwas zu sagen.
    »Wollen wir dann mal anfangen?«, fragt Ella Sandland. Ihre Stimme ist bestimmt. Brogeland sieht sie an, als wäre sie Frühstück, Mittag- und Abendessen zugleich.
    Sandland geht die Formalitäten durch. Henning hört ihr zu, tippt bei ihrem Dialekt auf Sunnmøre, Hareid vielleicht.
    »Habt ihr den Kerl geschnappt?«, fragt er, als sie zur ersten Frage ansetzt. Die beiden Kollegen sehen sich an.
    »Nein«, antwortet Brogeland.
    »Wisst ihr, wohin er abgehauen ist?«
    »Wir sind hier, um Sie zu vernehmen, nicht umgekehrt«, sagt Sandland.
    »Schon in Ordnung«, mischt Brogeland sich ein und legt eine Hand auf ihren Arm. »Es ist doch nicht verwunderlich, dass er das wissen will. Nein, wir wissen nicht, wo sich der Täter aufhält. Aber da kannst du uns hoffentlich weiterhelfen.«
    »Können Sie uns erzählen, was passiert ist?«, übernimmt Sandland wieder das Gespräch. Henning holt tief Luft und erzählt von dem Interview, den Schüssen, seiner Flucht, er spricht langsam und beherrscht, obgleich sein Inneres in Aufruhr ist. Es ist merkwürdig, das Ganze noch einmal zu durchleben, es in Worte zu fassen, sich klarzumachen, dass er einen oder zwei Millimeter am Tod vorbeigeschrappt ist.
    »Was wollten Sie bei Marhoni?«, fragt Sandland.
    »Ich habe ihn interviewt.«
    »Warum?«
    »Warum nicht? Sein Bruder sitzt in Untersuchungshaft für einen Mord, den er nicht begangen hat. Tariq kennt – oder besser kannte – seinen Bruder am besten. Ich wäre ehrlich gesagt etwas besorgt, wenn Ihnen der Gedanke nicht auch schon gekommen wäre.«
    »Natürlich«, sagt Sandland verschnupft. »Wir sind nur noch nicht dazu gekommen, uns Tariq vorzunehmen.«
    »Ah ja.«
    »Worüber haben Sie mit ihm geredet?«
    »Über seinen Bruder.«
    »Könnten Sie das etwas präzisieren?«
    Er holt theatralisch Luft, während er sich zurückzuerinnern versucht. Er hat alles auf dem Diktafon in seiner Jackentasche, hat aber nicht vor, damit rauszurücken.
    »Ich habe ihn gebeten, mir etwas über seinen Bruder zu erzählen, was er so treibt, wie sein Verhältnis zu Henriette Hagerup war – Fragen, wie man sie stellt, wenn man mehr über Menschen erfahren will.«
    »Was hat er geantwortet?«
    »Nicht viel Aufregendes. So weit sind wir nicht gekommen.«
    »Sie haben gesagt, der Bruder säße für einen Mord in Untersuchungshaft, den er nicht begangen

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