Unter dem Weltenbaum - 01
Prolog
Die Frau kämpfte sich durch den kniehohen Schnee, und das Bündel Altholz auf ihrem Rücken wog fast so schwer wie das Kind, das sie im Leib trug. Rasselnd verließ der Atem ihren Mund, um dann sofort im bitterkalten Südwind zu gefrieren. Klein und stark stapfte sie vorwärts. An ihren Schultern und Beinen wölbten sich die Muskeln, die sie in achtundzwanzig Jahren Überlebenskampf in ihrer rauhen Heimat mühsam erworben hatte. Früher hatte sie sich stets auf die Hilfe und den Beistand ihres Volkes verlassen können. Doch nun war sie allein, und dieses neue Kind, ihr drittes, würde sie gebären müssen, ohne jemanden zur Seite zu haben.
Dies sollte ihr letzter Marsch durch das Tal sein. Die schweren Winterstürme der letzten Wochen hatten sie in ihrer Unterkunft festgehalten, ihr mit Frost und Eis den Weg nach draußen unmöglich gemacht und ihren wertvollen Vorrat an heiß brennendem Zeitholz nahezu aufgezehrt. Sollten der Frau das Holz und die Trockenvorräte ausgehen, müßte sie sterben; und ihr Kind mit ihr. Erst gestern hatte das Wetter sich ausreichend beruhigt, so daß die Frau aufbrechen und sich durch den Schnee zu den Zeitholzbäumen vorarbeiten konnte. Mittlerweile war der Wind wieder aufgefrischt, und der Schnee fiel dichter. Sie wußte, daß ihr nur noch wenig Zeit blieb, ihre Unterkunft zu erreichen. Das Wissen darum, daß sie sich nach der Geburt ihres dritten Kindes erst einmal nicht weit fortbewegen könnte, trieb sie zusätzlich an.
Obwohl die Frau sich aus freien Stücken für dieses Leben in Einsamkeit entschieden hatte, nagte doch die Sorge an ihrer Seele.
Und die Unruhe um ihr Kind plagte sie. Die beiden vorangegangenen Schwangerschaften hatten ihr große Pein bereitet, vor allem in den letzten Wochen. Doch die Frau hatte ihre Kinder dann doch ohne viel Jammern und Klagen zur Welt gebracht. Ihr Körper hatte sich danach rasch erholt und war stets sauber verheilt. Aber bei dem neuen Säugling fürchtete sie die Wehen mehr als den einsamen Winter, der ihr bevorstand. Ein ungewöhnlich großes Kind … und sehr wütend. Nachts, wenn sie zu schlafen versuchte, trat und schlug es manchmal so zornig mit den Füßen und Fäusten gegen die Wände ihres Leibes, daß sie vor Schmerzen stöhnte und sich in dem vergeblichen Bemühen, dem Wüten des Kindes zu entgehen, von einer Seite auf die andere warf.
Die Frau hielt kurz inne, um die Holzlast auf ihrem Rücken geradezuschieben. Sie wünschte, sie könnte das Gewicht des ungeborenen Kindes ebenso leicht verlagern. Letzte Nacht hatte es sich bis ganz nach unten geschoben, so als suche es den Geburtskanal. Die Niederkunft schien unmittelbar bevorzustehen. Vielleicht schon heute abend, spätestens aber morgen. Die Frau spürte, wie ihre Beckenknochen bei jedem Schritt vom Druck des Säuglingskopfes auseinandergeschoben wurden. Das Gehen bereitete ihr immer mehr Mühe.
Sie spähte über den Schnee zu der dichten Reihe der Nadelhölzer, die sich dreihundert Schritte vor ihr erhob; sie hatte die Unterkunft nach bestem Vermögen errichtet. Abgeschirmt von den hohen Stämmen, befand sich das Lager an der windabgelegenen Seite eines felsigen Hügels, dessen Kuppe über die Wipfel hinausragte. Diese Kuppe bildete die erste Erhebung eines langen Höhenzugs, der auf die fernen Eisdachalpen zulief. Schon lange bevor man ihr die Schwangerschaft ansehen konnte, hatte die Frau sich von Freunden und Familie davongestohlen und war durch den Awarinheimwald gewandert, bis sie diese einsame Stelle gefunden hatte, die weit nördlich von ihrer Heimat lag. Vom ersten Herbstmonat an, dem Totlaubmond, hatte die Frau ihre Tage damit zugebracht, so viele Beeren, Nüsse und Samenkörner wie nur möglich zu sammeln. Doch sosehr sie auch suchte, sie hatte nur geringe Mengen von Malfari gefunden, jenen süßen und faserigen Knollen, die ihr Volk für gewöhnlich über den Winter brachten. So hatte die Frau sich gezwungen gesehen, immer wieder nach draußen zu gehen. Und die Furcht davor, ihr Kind und sich selbst nicht ausreichend zu ernähren, hielt sie nächtens wach. Die Reste einiger abgemagerter Kaninchen, die sie in Streifen geschnitten und getrocknet hatte, stellten ihren gesamten Fleischvorrat dar. Die Frau seufzte und rieb sich gedankenverloren den Bauch. Während sie versuchte, die grimmigen Schmerzen in den Beinen und im Unterleib nicht zu beachten, sehnte sie sich verzweifelt nach ein paar Hühnern oder einer Ziege, um ihren Speiseplan zu erweitern.
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