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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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Geistesforschern. So aber blieb es dem Wähler verborgen, ob er durch seinen Stimmzettel den Erkorenen in das Schilderhaus des höchsten Weltranges bugsierte oder es ihm verschloß. Wenn mir diese Frustration des Wählers jetzt nach meiner Rückkehr oft unbegreiflich erscheinen will, damals, das heißt dereinst in fernster Ferne, als ich sie zum erstenmal aus dem Munde des Fremdenführers vernahm, entzückte sie mich wie ein kühn erratenes Rätsel oder die elegante Lösung eines schwierigen mathematischen Problems.
    Als ich vorhin das Wort »Schilderhaus« in Verbindung mit dem Worte »Welthausmeier« vernommen hatte, da war in mir der Gedanke entstanden, daß die Machtfunktion in ihrem obersten Vertreter sichtbar und sinnbildlich erniedrigt werden sollte. Ich erwähne diese falsche Anwandlung nur, um die ehrfurchtgebietende Wirklichkeit des Mächtigen, der unter der Macht litt, des Ehrenreichen, der keine Ehre wollte, deutlicher hervorzuheben, denn schon war der Fremdenführer in der Hoheitsbaracke verschwunden, und meine Hausgruppe schob mich ihm nach mit sanftem Drucke durch die offene Tür in die bräunliche Dämmerung hinein. Ich unterschied zuerst zwei kleine Lämpchen auf dem Fußboden, zwei Nachtlichter, Totenlichter hätte ich beinahe gesagt, deren Schein sich kaum durch die Dämmerung arbeiten konnte. Es waren die ersten »natürlichen« Lichtquellen, die ich in dieser Welt der unsichtbaren und differenziertesten Beleuchtungsarten zu Gesicht bekam, flache Schnabellämpchen antiker Façon, wie man sie in Babylon und im ältesten Rom verwendet haben mochte, ölgefüllte Gefäßlein, in denen ein Docht schwamm. So floß in schwachem Funzelschimmer an dieser Stätte des gegenwärtigen Geoarchonten das unnennbar Antike mit dem unnennbar Modernen zum ewig Menschlichen zusammen. Dies war vermutlich zu sinnbildlichem Ausdruck nicht anders beabsichtigt; denn nichts ist hartnäckiger im ewig Menschlichen als der Wunsch, der Wirklichkeit eine doppelte Bedeutung zu geben und den platten Dingen einen göttlichen Hinterhalt zu legen. Die sogenannten realistischen Zeitalter, die von der göttlichen Doppelbedeutung der Realität mit Erbitterung nichts wissen wollen, das zwanzigste Jahrhundert zum Beispiel, in welches ich aus des Geoarchonten Schilderhaus inzwischen heimgekehrt bin, werden von ihrer sinnentleerten Realität zerfressen wie von Schwefelsäure.
    Jetzt begann ich deutlicher zu sehen. Zwischen den beiden archaischen Lämpchen aus Alt-Rom oder Babylon wuchs das Ruhelager des Weltregenten zu Beginn des zweiten Jahrhunderttausendes gegen den Hintergrund des engen Wachtlokals massig aus dem Dunkel. Das Kopfende war ziemlich hoch gebaut, so daß man die schlafende, in die violetten Ehrenschleier ihres Herrscheramtes gehüllte Figur darauf von Kopf zu Füßen überblicken konnte und das Gesicht in seiner alterslos gelblichen Elfenbeinfarbe immer deutlicher hervortrat wie bei einem Aufgebahrten. Ja, er schlief, der wichtigste und hervorstechendste Mann dieser Zeit, der einzige Namenlose und daher mit sich selbst nicht Identifizierbare unter den lebendigen Ios, ihr ungekrönt gekröntes Haupt. Er schlief, wie sich’s für einen Seleniazusen gebührte, gleichmäßig atmend, doch mit halboffenem Mund. Man sah sogleich, daß dieser Schlaf nicht die übliche Schwäche unsrer gefallenen Natur war, die Erholung und Erquickung braucht, sondern eine Art von amtlichem Schlaf, währenddessen ein Teil der für mich undurchdringlichen Regierungsgeschäfte erledigt wurde. Ich mußte an die Zusammenstimmer auf ihren Strecksesseln unter der dicken Glaskuppel denken, an jene hohen Beamten, welche den mentalen Reiseverkehr der Menschheit in Übereinstimmung zu bringen hatten. Auch sie taten’s im Schlaf, mehr als das, kraft ihres Schlafes, obgleich ihr Amt an Rang, Würde und Wert tief unter dem des Weltoberhauptes stand. »Die Verwendung des Schlafes für erhöhte geistige Lebenstätigkeit«, dies enthüllte sich mir jetzt als ein völlig unbekanntes und unerklärliches Gebiet, auf dem der Mensch einen seiner bis nun größten Fortschritte gemacht hatte. Wir, ich meine den Leser und mich, wir verschlafen von unsern durchschnittlichen siebzig Jahren ein Drittel, das sind ungefähr dreiundzwanzig Jahre, wodurch eine schon recht hoch gerechnete durchschnittliche Lebensdauer auf die unbeträchtliche Zahl von siebenundvierzig Jahren zusammenschrumpft. Diese hier jedoch hatten es gelernt, während ihres Schlafes mehr zu sein als

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