Stern der Ungeborenen
reine Spekulation, sonst nichts. Des Wortführers Pflicht hingegen ist die Darstellung der Dinge in Schrift und Rede …«
»Nicht des Wortführers Pflicht, der nur ein Hausredner ist«, ertönte die heisere Oratorenstimme des Fremdenführers dieses Zeitalters, der plötzlich alle hoch überragte und genau so aussah wie eine unvergessene Lesebekanntschaft meiner Knabenzeit, ich meine den ägyptischen Isispriester Arbaces aus Bulwers »Letzten Tagen von Pompeji«.
»Wessen Pflicht ist es, einen Fremden zu führen, der nicht nur einen Hausbesuch macht, sondern einen Weltbesuch?« Alle schwiegen beschämt. Die Autorität dieses hohen Bürokraten zu bestreiten, wagte niemand.
»Die Wahl des planetaren Archonten«, begann der Fremdenführer trocken und doch auch hoheitsvoll, »erfolgt kraft unserer Verfassung auf dem Wege des allgemeinen, gleichen, direkten und geheimen Wahlrechtes …«
Der genannte Begriff, »allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht«, klang meinen Ohren wohlvertraut, ja ich muß gestehen, allzu wohlvertraut. Die politischen Reden und Zeitungen meiner eigenen Jugendzeit waren von ihm erfüllt gewesen, und die Öffentlichkeit meines Heimatreiches hatte ihn hoch gefeiert, als er eines Tages, das alte Klassenrecht ablösend, zum Gesetz erhoben wurde. Wir freilich, die Studenten jener so ruhigen Zeit, jenes Weekends der Weltgeschichte vor 1914 , ich verstehe darunter B. H., mich und alle unsre Freunde, hatten uns recht wenig um Politik und Politiker gekümmert, die uns allesamt als Vertreter der niedrigen, bierigen Unbildung und Geistlosigkeit verächtlich waren. Wir selbst waren das, was jene bierbäuchigen Politiker ihrerseits wiederum mit Verachtung »weltfremde Ästheten« nannten. Wir waren’s in der festen Überzeugung, hoch über der gewöhnlichen Menschheit zu schweben, weil wir Gedichte für wichtiger hielten als Lohnkämpfe in der Industrie, als Zollgrenzen und die Sprachenfrage in nationalen Streitgebieten. Als nach dem Weekend der Weltgeschichte ihr blutiger Wochentag wieder anbrach, sollten wir nur allzubald eines besseren belehrt werden. Als ich aber jetzt, unzählige Jahrhunderte nach jenen verrauschten Kämpfen um die Demokratie, welche immer wieder verloren und immer wieder gewonnen wurden, aus dem Munde des Fremdenführers die altvergilbte und vorvergangene Wortfolge hörte: »Allgemeines, gleiches, direktes und geheimes Wahlrecht«, empfand ich nicht nur vergleichsweise die Enttäuschung eines Touristen, der sich die Peterskirche in Rom größer und dunkel-heiliger vorgestellt hatte, sondern auch etwas von jener ästhetenhaften Spottsucht meiner Jünglingszeit wider den Ernst der Politik. Ich wurde aber sofort aufgeklärt, daß es um das Wahlgesetz dieses Zeitalters durchaus nicht so bierbäuchig altväterisch bestellt war wie der bloße Klang der Phrase es vermuten ließ.
»Berechtigt zu wählen«, so setzte die radioartige Stimme des Fremdenführers die Belehrung fort, »ist jeder Mann, jede Frau, jeder Junggeselle, jede Junggesellin, kurz jegliches Io, welches das dreiunddreißigste Lebensjahr vollendet hat. Berechtigt, gewählt zu werden, sind immerdar nur elf entpersönlichte Persönlichkeiten. Es sind die Seleniazusen, die Mondgeweihten …«
Der Kürze wegen werde ich versuchen, die direkte Rede des Fremdenführers zu unterbrechen und diese sonderbare Sache mit eigenen Worten zu umschreiben. Ich muß zugeben, daß ich, außerstande irgendwelche Notizen zu machen, die ich freilich nicht hätte mitbringen können, mir von den einundzwanzig Bedingungen, welche die Selenezusia, die Mondgeweihtheit, ausmachen, zwar einen wichtigen Teil, nicht aber alle gemerkt habe. (In dem Worte »Mondgeweihtheit« wird gar mancher einen Rückschritt bis zur mythologischen Epoche der Menschheit verspüren, bis weit hinters allgemeine Wahlrecht meiner eigenen Jugendzeit zurück – dieses Gefühl wird aber irrig sein und den Tatsachen durchaus nicht gerecht werden.) Die elf Seleniazusen, welche, ohne es selbst zu wissen, die Kandidatur für das oberste Weltvorsteheramt innehatten, wurden von einer geheimen Kommission nach gewissen gesetzlich geforderten körperlichen Merkmalen und geistigen Eigenschaften aufgestellt, und zwar erfolgte ihre Erkürung schon im zarten Alter von fünf Jahren.
Von ihrem fünften Jahre an wurden sie unmerklich, aber beständig überwacht. Die Zahl der auf diese Weise unbewußt zur Kandidatur Zugelassenen konnte bis auf einhundertzehn anwachsen, die
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