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Stern der Ungeborenen

Stern der Ungeborenen

Titel: Stern der Ungeborenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Werfel
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bestenfalls die Beute irgendeines träumenden Scheinlebens. Sie wirkten durch ihren formenden Geist, während sie ohne Bewußtsein zu sein schienen, nicht minder auf das Geschehen ein, als würden sie wachen. Sie lebten daher die hundertachtzig oder zweihundert Jahre ihres Erdenwandels ohne Abzug.
    Ehrfurchtergriffen und kaum wagend zu atmen, vertiefte ich mich jetzt in das mondensanft leuchtende Gesicht des hohen Schläfers. Ureinst, in den Anfängen der Menschheit, einen Schläfer zu überraschen, das war stets eine sehr geschämige Sache gewesen. Davon gibt uns schon die biblische Geschichte Kunde, denn die Söhne Noahs überraschten diesen im weinbeschwerten, unruhigen Nachmittagsschlaf, wobei sie den Vater verspotteten und in unerhörtem, aber sehr charakteristischem Frevel seine Scham entblößten. Das soll bedeuten, daß der alte Schlaf (der Schlaf meiner Leser und der meinige) etwas war, in dem das Verhüllte aufgedeckt wurde, das uns so wohlbekannte »Unbewußte«, die wüste Vegetation, der Dschungel, das säuische Getümmel des inneren Lebens, über welches der Mensch nicht nur nicht Herr war, sondern das ihn jagte und hetzte durch das weglose Gestrüpp seiner selbst. Ach ja, jeder von uns antiken Schläfern glich dem um seine Achse bewegten, noch jugendlichen Erdplaneten, im Inneren voll kochenden Magmas, außen übersät mit Millionen Pflanzenarten, über welchen Millionen Insektenarten hin und wieder taumelten, über welchen Zehntausende Vogelarten sich wiegten, die hinabsahen auf bunt wogende Länder und Menschen. So reich an Vegetation, an unübersehbarem Formengewurle, an ungebahnter Unbewußtheit waren wir ureinst. – Wir sind es noch immer, meine Lieben, Gottseidank. Denn dieses Ureinst ist ja unser Jetzt. Wo meine Hand schreibt, da ist dieses Jetzt, wenn auch mein sich rückerinnernder Geist dem Jetzt um Jahrzehntausende vorausflügelt. – Dort aber, wo mein sich rückerinnernder Geist der Zeit vorausflügelt, hatte der Erdball selbst sich verändert. Er war eingeebnet und plan geworden. Es gab keine Berge und keine Vögel mehr. Es gab nur eine einzige Menschenrasse, und sogar die Hundeschaft hatte die Natur zu einer Generalsorte hinunterrationiert. Der Prozeß der Verkargung, den der Erdplanet, selbst ein belebtes Wesen, durchgemacht hatte, war zugleich ein Prozeß der Abstraktion, Abstraktion aber, Überwindung der Erfahrungsfülle durch den Begriff, ist Vergeistigung. Bei dem Prozeß der Abstraktion, der Vergeistigung des Erdplaneten, hatte auch der Mensch mitgehalten. Das heißt nicht gerade, daß er gescheiter geworden wäre; Sophistes Io-Sum und Io-Clap waren sogar viel weniger gescheit und auch denkschwächer als zum Beispiel Aristoteles oder der Aquinate. Das Reich des Unbewußten im Menschen aber war schmäler und gebahnter, und er schlief einen andern Schlaf.
    Der hohe Herr dort, der seinen Namen bei der Investitur hatte drangeben müssen, schlief einen Schlaf von Alabaster, so dünn und durchsichtig lag auf seinem Gesicht eine Schicht von anwesender Abwesenheit. Unter dieser diaphanen Schicht schien er in einem Höchstgrad gelassener Konzentration an der Seele der Welt und an seiner eigenen Seele zu arbeiten. Es ist noch jetzt, in der Erinnerung, ein unvergeßlich bewundernswerter Anblick für mich. Selbst Bräutigam Io-Do, der sich vor dem Denkmal des Letzten Krieges der Drohung vermessen hatte, er werde den Welthausmeier persönlich wecken, stand versunken da und schwieg wie auf Zehenspitzen. Aus einem solchen Schlafe voll tief- und weitblickendster Überwachheit mußte niemand geweckt werden, das sah man. Hinter dem Kopfende des Lagers standen zwei dienstbereite Mutarianer. Rechts neben dem Schläfer wartete, horchend geneigt, der spiegelnde Kahlkopf des Fremdenführers. Links vom Schläfer wartete, ebenso horchend geneigt, ein andrer spiegelnder Kahlkopf; vermutlich der Zeremonialdirektor vom Dienst.
    Plötzlich öffnete der Schläfer die Augen. Es waren herrliche dunkle, versunkene Geistesaugen, schöner als ich sie je gesehen hatte, doch bis zum Rande gefüllt von einer unbeschreiblichen Trauer. Wie? Diese von Trauer strahlenden Augen überwachten eine Welt, die im reinen zwecklosen Spiel ihr höchstes Ideal sah? Plötzlich fuhr ich zusammen, denn die Augen des Namenlosen sahen mich forschend unverwandt an, schon eine ganze Weile.
    »Euer Exzellenz«, begann der Kopf zur Linken, »die Stunde des Tagesorakels ist gekommen. Der Uranograph wartet …«
    Das Oberhaupt des

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