Kay Scarpetta bittet zu Tisch
1
Der Abend des zweiten Weihnachtsfeiertages war kalt und windig. In dem ruhigen Viertel von Richmond, in dem Dr. Kay Scarpetta wohnte, waren die Bäume kahl und knarrten im Wind. Kerzen erhellten die Fenster ihres modernen Steinhauses, und ein üppiger Kranz aus Immergrün und Stechpalmen hing in der Mitte der mit Schnitzereien verzierten Eingangstüre. Scarpetta hatte die Hecke neben der Veranda mit kleinen weißen Lichtern geschmückt und große rote Schleifen an den Lampen befestigt. Seit dem frühen Nachmittag war sie in der Küche zugange, und jetzt hatten sich ihre Gäste eingefunden.
»Das reicht jetzt aber mit dem Sprit«, mahnte Scarpetta Pete Marino, Chef der hiesigen Polizei, mit dem sie schon jahrelang zusammenarbeitete. »Bitte keine Alkoholvergiftung in meinem Haus!«
Marino hörte ihr gar nicht zu, sondern kippte zwei weitere Schnapsgläser Original Virginia Lightning in den Mixer. Jeder Gast sollte etwas ganz Besonderes zu dem Abend beitragen, und sein Beitrag war Eggnog, wie an jedem 26. Dezember, dem schwärzesten Tag im Jahr. Scarpetta bestand darauf, daß sie ihn immer alle drei gemeinsam verbrachten.
»Sie müssen ja nicht so viel davon trinken«, sagte Marino. »Ein, zwei Schlückchen, und dann kommt das nächste an die Reihe.«
»Und was wäre das nächste?« fragte sie und klopfte mit einem langen Holzlöffel gegen den Topf. »Wo sind die geräucherten Austern?«
»In der Speisekammer.«
»Gut. Man kann sie nicht einfach weglassen.«
»Das tue ich nie. Ganz egal, wer sie außer mir noch mag.«
»Das ist die richtige Einstellung«, sagte Marino zufrieden.
Er war ein großer Mann mit riesigen Händen, mit denen er finstere Gestalten an der Flucht hindern und sie zu Boden werfen konnte. Sein rotes Karohemd spannte über dem Bauch, und sein schütteres graues Haar war ungebändigt. Scarpetta rührte die Tomatensauce, die auf dem Herd köchelte.
»Wein haben Sie aber doch, oder?« fuhr er fort. »Ich denke, ich könnte heute abend mal zivilisiert auftreten und etwas anderes als Bier trinken. Hier, probieren Sie mal, Doc.«
Er goß einen Schluck Eggnog in ein Wasserglas und reichte es ihr. Sie nippte daran, und ihre Lippen brannten. Der Korn wärmte ihre Kehle und erhitzte den Magen. Die Gedanken wurden klarer. Vieles, das nur vage und formlos gewesen war, gewann scharfe Konturen.
»Wow«, sagte die unerschrockene Rechtsmedizinerin aus Virginia. »Auf den Punkt. Dagegen läßt sich nichts sagen. Heute abend setzt sich niemand mehr ans Steuer. Um genau zu sein, verläßt heute keiner mehr auch nur das Haus.«
»Ich bin noch gar nicht ganz fertig, er wird also noch besser. Jetzt muß er erst mal eine Weile ruhen. Für ein paar Stunden haben Sie nichts zu befürchten. Jedenfalls lang genug, um Ihre Pizza zuzubereiten. Um die kommen Sie nämlich nicht herum. Schließlich machen Sie höchstens einmal im Jahr Pizza.«
Tatsächlich verfügte Scarpetta sonst nicht über die Zeit, den halben Tag in der Küche zu stehen. Und obwohl Pizza eigentlich kein Festtagsessen war, wurde sie doch bei ihr zu einem unvergeßlichen Erlebnis. Ihre Spezialität war eine einzigartige Mischung aus Italien, Miami und Einfallsreichtum. Bisher war noch jeder, den sie zum Essen eingeladen hatte, ein anderer Mensch geworden. Scarpetta kochte mit Liebe und Phantasie. Ihre Kreationen sollten besänftigen, heilen und Anflüge von Einsamkeit lindern. Jedem, den sie zum Essen einlud, widmete sie sich von ganzem Herzen.
»Wo bleibt der Eggnog?« meldete sich Lucy Farinelli aus d em Wohnzimmer. Sie war Agentin des ATF, des Bureau of Alcohol, Tobacco und Firearms, und Scarpettas einzige Nichte. »Immer mit der Ruhe!« rief Marino zurück. »Ich will ihn aber jetzt!« »Pech gehabt!« »Wann denn?« »In ein paar Stunden!«
»Niemals! So lange halte ich es nicht mehr aus!« »Kein Eggnog vor seiner Zeit!« donnerte Marino. »Dann gehe ich jetzt eben joggen. Meine Güte, immer diese Enttäuschungen!«
»Tante Kay sagt, du kannst jetzt nicht gehen!« Lucy steckte ihre Sig Saur 9-mm-Pistole in das Schulterhalfter und schlang es sich bequem um die Hüfte. Sie ging in die Küche und umarmte ihre Tante von hinten. Scarpetta lächelte und rührte weiter. Lucy schnitt Marino eine Fratze.
»Weißt du noch, wie Marino seinen ersten Eggnog für uns gemacht hat?« erinnerte Lucy sie. »Wilden Truthahn, und zwar in rauhen Mengen. Rote Lebensmittelfarbe wegen Weihnachten, klar. Schlagsahne mit Pfefferminzbonbons oben drauf, und das
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