Sternenlaeufer
Unbehagen über die Pläne seines Sohnes zu verbergen. Sioned warf ihm einen mitfühlenden Blick zu. Sie hatten den ersten Schock über Andrys Abkehr von der Tradition zwar überwunden, aber es war etwas anderes, sein Tun wirklich zu akzeptieren. Mehrere Tage waren vergangen, seit Urival mit Sioned über das Sonnenlicht gesprochen hatte, und seine Farben hatten vor Zorn über Andrys Vermessenheit geblitzt. Einige andere wichtige Lichtläufer, die heute Abend ebenfalls aus weiter Ferne zusehen würden, waren genauso informiert worden, damit sie nicht aus Überraschung den Ablauf stören würden. Trotzdem fragte Sioned sich, wie die Reaktion aus der Schule der Göttin selbst wohl ausfallen würde, wenn die anwesenden Faradh’im auf einmal an einer neuen Zeremonie teilnehmen würden.
»Es dauert noch ein Weilchen, bis die Sonne untergeht«, stellte Rohan fest. »Chay, ganz offensichtlich bedrückt dich etwas. Heraus damit.«
Der Herr von Radzyn zuckte mit den Schultern und versuchte locker zu erscheinen. »Vielleicht werde ich auf meine alten Tage einfach konservativ. Veränderungen sind nicht unbedingt etwas Schlechtes. Und er scheint seine Gründe zu haben.«
»Aber warum konnte er damit nicht warten?«, platzte Tobin heraus. »Er handelt übereilt. Man kann die Tradition von Jahrhunderten nicht in einer Nacht auslöschen!«
Rohan schien nachdenklich. »Ihr habt natürlich alle beide Recht. Aber bedenkt Andrys Motive. Er muss etwas tun, um deutlich zu machen, wie sehr seine Herrschaft sich von Andrades Regentschaft unterscheiden wird.«
»Sie ist seit vierzig Tagen tot«, murmelte Sioned. »Warum kommt es mir nur so lange vor?«
Mit einem Finger strich Ostvel eine Falte im Teppich glatt. »Ihr habt mir erzählt, sie hätte ein ungutes Gefühl gehabt, was Andry betraf. Aber Urival ist da, und er kennt ihn gut. Urival wird ihn leiten.«
»Aber nicht kontrollieren«, erwiderte Sioned.
»Aber hat Andrade dich denn jemals kontrolliert?« Ostvel lächelte leicht. »Andry ist kein Narr, Sioned, und ebenso wenig ist er käuflich oder gierig. Er ist nur ein sehr junger Mann, der in eine Position großer Macht gedrängt wird, ehe er darauf vorbereitet ist. Ich glaube, unter uns sind einige, die seine Gefühle und Bedürfnisse verstehen.«
Rohan nickte. »O ja. Ich verstehe ihn sehr gut. Ich bin selbst Architekt einiger Abweichungen von der Tradition gewesen, und viele davon habe ich in meinem ersten Jahr als regierender Prinz eingeführt. Und jetzt sprechen wir hier über Andry – einen Knaben, mit dem wir beide, du, Ostvel, und ich, Drachen gespielt haben. Er ist unser Neffe, Sohn und Bruder.« Sein Blick wanderte im Kreis.
Sioned räusperte sich und blickte auf den Weinkelch nieder. Langsam füllte sie ihn aus der goldenen Karaffe. Dann griff sie in eine Tasche und zog einen kleinen Stoffbeutel hervor.
»Sioned – ist das wirklich nötig?«, erkundigte sich Tobin besorgt.
»Mir gefällt die Idee ebenso wenig wie dir. Aber Urival hat darauf recht deutlich hingewiesen. Und ich werde nur ganz wenig nehmen. Nicht so viel, dass es mir schadet.« Sie löste die Bänder und nahm eine Prise des graugrünen Pulvers heraus. »Genug, um in einem Daumenring Platz zu finden«, zitierte sie Urival. »Die Sternenrolle rät zur Vorsicht, aber diese Menge ist ganz sicher.«
»Wenn man wirklich einem nur halb übersetzten Buch Glauben schenken will, das Hunderte von Jahren alt ist!« Maarken schüttelte den Kopf und sah seine Gemahlin an. Hollis schrak vor dem Anblick des Dranath in Sioneds Fingern nicht zurück, aber ihre Augen verrieten ihre innere Pein. Sie hatte die Reise von Waes nach Stronghold dazu genutzt, sich von ihrer Abhängigkeit von der Droge zu befreien; auch wenn es sie nun nicht mehr danach verlangte, so waren die Qualen des Entzugs doch noch immer von ihren bleichen Lippen und geschwollenen Lidern abzulesen.
»Die Beschwörung, die ich heute Abend wirke, ist unter normalen Umständen schon schwierig genug«, erinnerte Sioned die anderen. »Diese wird die ganze Nacht lang dauern. Urival sagt, Dranath kann die Kräfte steigern. Deshalb hat er den Gebrauch der Droge sanktioniert.«
Ehe irgendjemand etwas sagen konnte, ließ sie das Dranath in den Wein rieseln, schwenkte den Kelch, um es unterzumischen, und trank ihn halb leer.
»Ich kann mich noch erinnern, wie es sich anfühlt«, murmelte sie in die Stille. »Einen Augenblick lang ist man benommen, dann folgt Wärme …« Ihre Wangen röteten sich. Dranath
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