Sternstunden des Universums
also mit der gleichen Winkelgeschwindigkeit rotieren, mit der er auf seiner Bahn den Stern umläuft.
Überlegen wir noch, wie ein Beobachter von einem festen Standort auf einem Planeten die Sonne wahrnimmt. Obwohl er weiß, dass sich die Sonne nicht bewegt, sieht er sie doch mit einer gewissen Winkelgeschwindigkeit über den Himmel ziehen. Diese »scheinbare« Winkelgeschwindigkeit der Sonne ist gleich der Differenz zwischen der Winkelgeschwindigkeit der Rotation des Planeten und derjenigen seiner Wanderung um die Sonne. Demnach verharrt die Sonne unbeweglich am Himmel, wenn die beiden Winkelgeschwindigkeiten gleich sind.
Fasst man die bisherigen Betrachtungen zusammen, so liegt der Schluss nahe, dass das bizarre »Sonnentheater« auf dem Merkur etwas mit den Winkelgeschwindigkeiten des Planeten zu tun hat. Um das zu bestätigen, benötigen wir die Bewegungsdaten des Merkurs. Bis Anfang der 60er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts glaubte man noch, dass ein Merkurtag genauso lang wie ein Merkurjahr sei und dass der Merkur uns wie der Mond immer dieselbe Seite zuwendet. Doch 1965 durchgeführte Radarbeobachtungen ließen erkennen, dass das nicht stimmt. Heute weiß man: Für eine Umdrehung braucht Merkur 58,646, für einen Umlauf um die Sonne 87,969 Erdentage. Das bedeutet: Während der Merkur zweimal die Sonne umrundet, dreht er sich dreimal um seine Achse. Hinzu kommt, dass Merkurs Bahn um die Sonne elliptisch ist. Im Aphel beträgt sein Abstand zur Sonne rund 70 Millionen Kilometer, im Perihel ist er nur noch knapp 46 Millionen Kilometer von ihr entfernt. Für einen Beobachter auf dem Merkur scheint daher die Sonne immer größer zu werden, wenn sich der Planet dem Perihel nähert, um danach wieder zu schrumpfen.
Entsprechend diesem Verhältnis von drei Umdrehungen des Planeten während zweier Umläufe um die Sonne verhalten sich auch die beiden Winkelgeschwindigkeiten wie 3 zu 2 oder 1,5 zu 1, oder anders ausgedrückt: Die Winkelgeschwindigkeit der Merkurrotation ist 1,5-mal größer als die, mit der er die Sonne umkreist. Das ist der über den ganzen langen Merkurtag errechnete Mittelwert. Betrachtet man das Verhältnis in Abhängigkeit von der Position des Merkurs auf seiner Bahn, so weicht es jedoch deutlich vom Mittelwert ab. Denn während sich der Planet mit gleichbleibender Winkelgeschwindigkeit um seine Achse dreht, ist die Bahnwinkelgeschwindigkeit aufgrund der ausgeprägt elliptischen Umlaufbahn nicht überall gleich. Im Aphel ist die Umlaufwinkelgeschwindigkeit 0,68-mal kleiner als die mittlere Winkelgeschwindigkeit und im Perihel um den Faktor 1,53 größer. Im Aphel stehen demnach die beiden Winkelgeschwindigkeiten im Verhältnis 1,5 zu 0,68 und im Perihel im Verhältnis 1,5 zu 1,53.
Analysieren wir, was das für die Bewegung der Sonne am Merkurhimmel bedeutet. Je näher der Planet dem Perihel kommt, umso größer wird seine Bahnwinkelgeschwindigkeit. Kurz vor Erreichen dieser Position wird ein Punkt durchlaufen, an dem die Bahnwinkelgeschwindigkeit 1,5-mal größer ist als der Mittelwert. Dort verhalten sich die Winkelgeschwindigkeiten der Rotation und der Bahnbewegung wie 1,5 zu 1,5. Beide Winkelgeschwindigkeiten sind also gleich! Und da die scheinbare Winkelgeschwindigkeit der Sonne gleich der Differenz der beiden Winkelgeschwindigkeiten ist – in diesem Fall null –, stellt die Sonne ihre nach Westen gerichtete Bewegung am Merkurhimmel ein und kommt zum Stehen. Auf dem weiteren Weg des Planeten bis zum Perihel wächst dann die Bahnwinkelgeschwindigkeit weiter an und übersteigt schließlich die der Rotation um das 1,02-Fache. Die Winkelgeschwindigkeit der Sonne wird also negativ, mit dem Ergebnis, dass die Sonne rückwärts, das heißt nach Osten, zu laufen beginnt. Beim Überschreiten des Perihels jedoch kehren sich die Verhältnisse um. Die Sonne kommt in ihrer Rückwärtsbewegung allmählich zum Stehen und bewegt sich anschließend mit wachsender Winkelgeschwindigkeit wieder in westlicher Richtung über den Merkurhimmel. Dieses Schauspiel ereignet sich zweimal pro Merkurtag.
Sollte jemals ein Mensch den Merkur betreten, so könnte er diese Anomalie überall auf der der Sonne zugewandten Merkurhemisphäre beobachten. Am »dramatischsten« wäre das Schauspiel an vier ausgezeichneten Orten. Zwei liegen am Äquator auf einander gegenüberliegenden Seiten des Planeten, die anderen sind längs des Äquators um jeweils 90 Grad nach Osten beziehungsweise Westen an den Rand der gerade der Sonne
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