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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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dem Weg zu sein ins Herz der Welt.
    Sie blinzelte und spürte ein Kribbeln unter der Schädeldecke, als sie auf dem Video die Kammer mit dem Mikrofon hantieren sah. Nicht daß sie Sunny wirklich ähnelte – die Kammer war schwarzhaarig und Sunny war blond, zumindest damals war sie blond gewesen – doch auf der Bühne waren sie fast gleich. Standen wie Priesterinnen da oben, und unten tobte das Volk. Hämmerten Rhythmen in die Körper, entzündeten Feuer in den Herzen und zauberten in die Augen diesen Glanz, weil in den Köpfen eine Vision entstand: Woanders gibt’s ein schöneres Leben, garantiert.
    Sunny trug einen Ledermini, sang mit einer Röhrenstimme, die ihr Herz verschlang, und hatte jeden Ton und jede Silbe aus Inas Träumen geklaut. Man war geübt im Träumen, lebte man in der Provinz, malte sich Bilder von Bars und Saxophonen in der Nacht. Sunny wußte um diese Träume, und sie hatte sie wahr gemacht.
    Nimm mich mit, wollte Ina ihr sagen, ich weiß ja selber nicht wohin, bloß weg. Zeig mir, wie du das machst, laß mich dieselben tollen Kerle haben, diesen superschönen Drummer, mit dem hast du doch was, hab ich recht? Und mit dem Bassisten auch, weil’s ja egal ist, weil’s verdammt öde ist, mit einem langweiligen Mann ein langweiliges Leben zu leben, da pickt man sich die Rosinen raus: reihum.
    Zeig’s mir. Erzähl mir, wie es geht.
    So viel wollte sie ihr sagen, aber dann waren es nur ein paar Worte gewesen, nein, noch nicht einmal Worte. Herausgepreßte Laute bloß, die einen fünfzehn Jahre später noch erröten ließen. Es war auf dem Damenklo, das Konzert war längst vorbei, und Ina glotzte in den Spiegel und wollte nicht heim. Nicht sich selbst sah sie im Spiegel, sondern eine ganze Welt aus flirrenden Städten bei Nacht und aus Stränden bei Tag. Hände sah sie, die sie ins Wasser zogen und dafür sorgten, daß sie nicht unterging, Hände, die Feuer gaben – na gut, sie haßte Zigaretten, also besser so: Hände, die irgendwas mit ihr machten, Hände, die sie spüren und Augen, die sie sehen konnte. Was sie dann sah, waren die sich öffnende Klotür und Sunny.
    Sie sah sie näher kommen, das unschickliche Geräusch der rauschenden Spülung auf der Stelle vergessend. Sunny wusch sich die Hände wie ein Mensch und kramte dann in ihrer Handtasche herum, was die Welt nun auch nicht aus den Angeln hob. Aber sie stand neben ihr – nimm mich mit, verdammt noch mal – und ein merkwürdiger Duft ging von ihr aus. Alle Mädels, die Ina kannte, rochen nach Patschuli, nach Patschuli stank ganz Oberhessen bei Nacht, doch Sunny verströmte einen sanften, fremden Duft nach Moos und Beeren.
    Laß mich bloß nicht hier zurück, kein Mensch will doof sterben in der Provinz.
    »Sag mal«, sagte Sunny, »habt ihr hier ’ne Nachtapotheke?« Sie verzog das Gesicht, als sie in den Spiegel sah, und ihre Stimme klang anders als auf der Bühne, piepsiger, normaler. Aber jetzt sprach sie mit ihr, halte sie angesprochen, hatte sag mal gesagt, also mußte sie antworten.
    Meine Güte, sie kannte jetzt auf Anhieb noch nicht mal eine Tagesapotheke.
    »Ehm« – wie oft hatte sie sich geräuspert, zweimal, dreimal, ohne Ende? »Hier nicht. In Butzbach drüben. Da schon.«
    »Butzbach?« Sunny zog die Nase hoch. »Ist das die nächstgrößere City?«
    »Hm. Ja.«
    »Na schön.« Sunny hielt einen Lippenstift zwischen zwei Fingern, den sie kurz fixierte wie eine Fliege auf einem Stück Kuchen, bevor sie ihn ins Waschbecken warf. Sie ging und ließ ihn da liegen und murmelte noch: »Gute Nacht.«
    Damals hatte der Lippenstift noch keinen Sprung, das mußte im Lauf der Jahre passiert sein. Damals war die rote Hülle glatt und kühl und schien diesen fremden Duft zu verströmen nach Beeren und Moos. Ein namenloser Lippenstift, noch nicht mal eine Marke, achtlos weggeworfen, weil die Spitze abgebrochen war. Ein kleines Juwel. Duftend und wie ein edles Sammlerstück in der Handfläche liegend, hatte er sie durch die Jahre begleitet, so wie Sunnys Parfüm, das sie erst gefunden hatte, nachdem sie sich durch vier Drogerien geschnüffelt hatte, White Linen. Sie benutzte es kaum noch und trug auch den Lippenstift nicht mehr als Talisman mit sich herum, doch gehörte er zu den Schätzen ihres Lebens wie die kaputte Armbanduhr ihrer toten Oma und der silberne Ring von Karsten, ihrem ersten richtigen Freund. Zwei Konzerte hatte sie noch gesehen, fuhr Sunny und ihren bildschönen Jungs nach Gambach hinterher und nach Rockenberg,

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