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Sterntaucher

Sterntaucher

Titel: Sterntaucher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Astrid Paprotta
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Leichen und erschrickt sich.
    Draußen rotierte noch immer das Licht des Einsatzwagens. Hob man den Kopf, sah es aus, als sei für ein verrücktes Fest geschmückt, als blitzten auf den Baumkronen blaue Girlanden. Die Träger nahmen die Bahre und stellten sie vor den Toten hin. Gleich würden sie die Decke über ihn legen und die Gurte über ihm zusammenziehen, um ihn zu verschnüren wie ein Paket. Der eine hieß Jan, der faßte die Toten oben an, während für den anderen die Füße blieben, doch das ging jetzt nicht, das durften sie nicht tun. Dorian schob sie zur Seite und kniete sich vor ihn hin. Ein toter Rumpf mit toten Gliedern dran, verwundete Haut und Kälte, wenn man ihm nahe kam. Hier waren so viele Menschen, doch niemand hatte ihm die Augen geschlossen, er sah ihn immer noch an. Robbi, Robbi, kleine Maus, komm nach Haus, wie alt war Robin gewesen, als ihre Mutter das gerufen hatte, dreieinhalb? Er dachte, daß er so nicht liegen durfte, verrenkt im Gras mit toten Augen, und daß er schon gar nicht auf diese Bahre gehörte, mit einer Decke über dem Gesicht, die alles verschlang, und daß das Scheinwerferlicht, das Katja Kammer begleitet hatte, nun ihrem Sohn Robin schien auf seiner Reise in ein anderes Land; tot, hatte ihre Mutter einmal zu ihnen gesagt, das heißt, man geht woandershin, aber das war jetzt auch schon wieder ewig her.
    Es war so viel, was sie gesagt hatte, und so viel, was er jetzt dachte. Als er den Kopf drehte, sah er das Knie der Kommissarin Henkel, sie trug einen engen, kurzen Rock, eher eine Manschette. Sie hatte schöne Beine und wußte es wohl, sie war immer so schick gekleidet; langsam hob er den Kopf.
    Sie sah auf ihn herunter, und ihre Stimme klang gereizt, als sie fragte: »Was machst du denn, was soll das?«
    Dorian sagte: »Das ist mein Bruder.«
    Niemand erwiderte etwas darauf, und er wandte sich ihm wieder zu, weil er sich fest vorgenommen hatte, ihm endlich die Augen zu schließen, doch das schaffte er nicht. Es lag vielleicht daran, daß Leute zuguckten, oder daran, daß man Scheu hatte, es bei einem Menschen zu tun, den man kannte.
    Er konnte es nicht. Er wollte auch nicht mehr.
    Robin sah ihn ja dauernd an, als wollte er sagen: Laß es, Mann. Sein Leben lang war er klein gewesen, und auch im Tod sah er winzig aus und dünn.
    Dorian stand auf und klopfte seine Knie ab, etwas, das man gedankenlos tat, denn schmutzig wurde die Hose ja nicht im trockenen Gras.
    Die Kommissarin starrte ihn an. So vollkommen reglos sah sie ihm direkt in die Augen, daß ihre Lider nicht mehr zuklappten und ihre Lippen leicht geöffnet blieben, was ziemlich doof aussah. Hinter sich hörte er ein Geräusch, und als er sich umdrehte, hatte Jan, der Totenträger, sich auf die Bahre gesetzt, was man eigentlich nicht durfte, aber jetzt hockte er mit übereinandergeschlagenen Beinen da und preßte seine Handflächen gegen die Schläfen. Weiter weg war die Stimme Kissels zu hören, der den Leuten von der Spurensicherung erzählte, daß eine Lebensversicherung sich nicht lohnte.
    »Ja«, sagte er. »Mein Bruder, Robin Kammer. Er ist achtzehn Jahre alt. Achtzehneinhalb.« Ein furchtbares Durcheinander war in seinem Kopf, das nun Raum ließ für einen wichtigen Gedanken. Es war die Erinnerung an einen Satz, den seine Mutter einmal gesagt hatte: Tot ist nur der, an den niemand mehr denkt. »Weißt du was?« sagte er, »das wird Aufsehen geben. Er ist der Sohn einer berühmten Sängerin.«
    Die Kommissarin sah ihn an, als wüßte sie nicht weiter. Sie zog die Schultern hoch und sah sich um wie ein Kind, das sich verlaufen hat, doch dann legte sie eine Hand auf seinen Arm, und er roch ihr Parfüm. Drei Kilometer Duftlinie, hatte Nicole einmal zu ihr gesagt, Süße, du badest darin.
    »Komm mit«, sagte sie leise, noch leiser als sonst, und zusammen gingen sie zu den Bänken, auf denen am Tag die Leute saßen, um auf die Gräber zu gucken. Hier war es viel dunkler, doch konnte man den hellen Schein noch sehen, und auch die Stimmen waren noch zu hören, Kissels Stimme gerade, der von irgendwoher rief: »Was ist denn los?«
    Dasselbe fragte Ina Dorian jetzt auch, flüsterte es fast: »Was ist los?« Als sie ihn anguckte, wie ihn früher seine Mutter angeguckt hatte, um herauszufinden, ob er Fieber hatte, erinnerte er sich plötzlich an jenen Einsatz in einem Hochhaus, an diesen Mann, der da geborgen wurde, der schon halb verwest, der gar nicht mehr beisammen war. Er hatte Angst in ihren Augen gesehen, als sie

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