Stieber - Der Spion des Kanzlers Roman
Preußen, denn sie werden sich unsterblich dabei blamieren.« Damals hatte er lauthals gelacht,
erst jetzt wurde ihm klar, wie bitter dieses kämpferische Lied eigentlich war.
Die Lektüre einer kleinen Meldung amüsierte Lamartine: In der Champagnerstadt Reims hatte eine wohlhabende Witwe dem zivilen
Beamtentroß des feindlichen Heeres ihr Schloß als Residenz zur Verfügung gestellt, weil der zeitweilige deutsche Stadtkommandant,
ein Berliner Jurist namens Wilhelm Stieber, die Militärs davon abgehalten hatte, ein Haus, aus dem heraus auf die Deutschen
geschossen worden war, dem Erdboden gleichzumachen. Jener Stieber wohnte mit seiner Entourage in den Räumen der Witwe und
trank ebenso wie die Husaren, die auf das Bombardement des feindlichen Hauses verzichtet hatten, in Strömen den Champagner,
mit dem die Witwe ein Vermögen gemacht hatte. Eines Abends – so wurde in Lamartines Zeitung berichtet – hätte die Witwe einen
Empfang für ihre deutsche Einquartierung gegeben, zu dem neben jenem aufgezwungenen Präfekten Stieber auch Bismarck und Graf
Waldersee eingeladen waren. Die Reimser Witwe habe beste Weine kredenzt und sich erhoben, um einen Toast anzubringen: »Ihr
Sieger habt zwar den Männern Frankreichs ihre Waffen genommen, jedoch nicht uns Frauen! Und jene weiblichen Waffen des Charmes
und der unwiderstehlichen Liebenswürdigkeit wollen wir weiter gegen euch gebrauchen, bis ihr von Siegern zu Besiegten geworden
seid.«
Die, denen auf diese Art die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln erklärt worden war, sollen nach diesem Trinkspruch
begeistert applaudiert haben. Die Frauen in Frankreichs besetzten Städten hätten den Toast der Witwe dankbar angenommen und
bei jeder sich bietenden Gelegenheit den preußischen Siegern gezeigt, wie wenig wirksam ihre schweren Waffen gegen den Charme
französischer Frauen waren, hieß es in der Zeitung.
Lamartine wußte sehr wohl, was es mit der Gegenoffensiveder feinen Damenwelt auf sich hatte. Es ging nicht um aufopfernden Widerstand gegen die Besatzer. Die aristokratischen Damen
des in Versailles privatisierenden Hochadels würden keinen preußischen Offizier nachts in ihr Zimmer lassen, um einen im Gefängnis
darbenden Landsmann zu befreien. Die Damen handelten im Auftrag ihrer Gatten, der Adligen und Großbürger des Zweiten Kaiserreiches.
Die hatten nämlich inzwischen einen anderen, für sie viel gefährlicheren Feind als die Deutschen ausgemacht – und um den zu
vertreiben, brauchten sie die Hilfe der Deutschen. Deshalb mußten die Damen mit Charme um die Besatzer werben.
Im September des Vorjahres, zwei Tage nachdem Napoleon III. von den Deutschen bei Sedan geschlagen worden war, hatten die
oppositionellen Kräfte die Gelegenheit genutzt, die alte Regierung entmachtet und die Dritte Republik ausgerufen. Wie viele
seiner Kollegen von der Pariser Polizei war Lamartine ein nicht gerade glühender, aber dennoch zuversichtlicher Bewunderer
der neuen Führer Jules Favre und Leon Gambetta. Zwar galt als wesentlicher Grund für die Ablösung des Kaisers die Gedankenlosigkeit,
mit der er sich von den Deutschen zu einer Kriegserklärung hatte reizen lassen und Frankreich in den Krieg hineingezogen hatte.
Aber da man die Deutschen nun mal im Land hatte, mußten auch die neuen Herren etwas tun, um sie wieder loszuwerden. Deshalb
hatte Lamartine mitten in einer begeisterten Menge auf der Place de la Bastille Beifall geklatscht, als bekannt wurde, daß
sich eine »Regierung der nationalen Verteidigung« gebildet und der neue Innenminister Gambetta das eingeschlossene Paris mit
einem Fesselballon verlassen hatte, um von außen die Befreiung der Hauptstadt zu befehligen.
Im Büro am Quai des Orfèvres hatten die Kriminalisten, die der Krieg des Kaisers gegen die Preußen eher deprimiert hatte,
nun mit sportlicher Begeisterung die kleinen, unglaublichen Siege verfolgt, die die schnell in der Provinz aufgestellten Franctireur-Verbände
bewaffneter Zivilisten gegen die Eindringlingeerrangen. Die Kollegen hatten im Zimmer des Oberkommissars sogar eine Karte aufgehängt und mit Fähnchen die Orte markiert,
an denen die Loire-Armee den Deutschen empfindliche Nadelstiche beibrachte: Orléans im Oktober, Coulmiers im November des
Jahres 1870.
Erst als der lang ersehnte Vorstoß der Nordarmee zur Befreiung des eingeschlossenen Paris bei Amiens, Bapaume und St. Quentin
steckengeblieben war, legte sich die
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