Stille Tage in Clichy
erfüllt schließlich den ganzen Körper, gleich der Euphorie, die nach einer guten Flasche Rotwein Besitz von uns ergreift.
Alles wird leichter, und man beginnt die Dinge so zu nehmen, wie sie sind. Die Kriege verlieren ihren Sinn, das Geld ist nicht mehr in so hohem Maße die Voraussetzung zum Glück, während die Liebe und das Mitgefühl für das Weiterbestehen des Menschen unbedingt notwendig werden.
So rate ich denn dem Leser, halten Sie den Arm hin und lassen Sie sich eine Spritze geben, lassen Sie sich ein neues Leben injizieren. Seien Sie bereit, die Welt aus einer neuen Perspektive zu sehen und nicht mehr durch die Brille des extremen Materialismus unserer Zeit... fangen Sie an zu singen...
Tony Miller (geb. 28. August 1948)
Santa Monica/California
April 1967
Stille Tage in Clichy
Während ich schreibe, bricht die Dunkelheit herein und die Leute gehen zum Abendessen. Ein grauer Tag ist zu Ende, wie man ihn in Paris oft erlebt. Als ich um den Häuserblock ging, um meine Gedanken an die frische Luft zu führen, wurde mir unwillkürlich wieder der enorme Gegensatz zwischen den beiden Städten — New York und Paris — bewußt. Es ist die gleiche Stunde, der gleiche trübe Tag, und doch hat das Wort grau, das die Assoziation hervorrief, nur wenig gemeinsam mit jenem gris , das für die Ohren eines Franzosen eine ganze Welt von Gedanken und Gefühlen einschließt. Schon vor Jahren, als ich durch die Straßen von Paris ging und die in den Schaufenstern ausgestellten Aquarelle betrachtete, war mir aufgefallen, daß das, was allgemein ‹Paynes Grau› genannt wird, hier völlig fehlte. Ich erwähne das nur, weil Paris bekanntlich vor allem eine graue Stadt ist. Ich erwähne es, weil die amerikanischen Maler beim Aquarellieren dieses spezielle Grau übermäßig und geradezu manisch verwenden. In Frankreich ist die Skala der Grautöne offenbar unbegrenzt. Bei uns dagegen verliert das Grau seine eigentliche Wirkung.
Ich dachte an diese unermeßliche Welt von Grau, die ich in Paris kannte, denn um diese Stunde, wo ich dort gewöhnlich zu den Boulevards hinschlenderte, überkommt mich hier das Verlangen, nach Hause zu gehen und zu schreiben: eine völlige Umkehrung meiner sonstigen Gewohnheiten. Dort wäre mein Tag zu Ende gewesen, und ich hätte das Verlangen gehabt, mich unter Menschen zu begeben. Hier dagegen treibt mich die Menge, die farblos, unterschiedslos, wesenlos ist, auf mich selbst zurück, treibt mich heim in mein Zimmer, wo ich im Geiste diese Elemente eines mir hier fehlenden Lebens suche, die, vermischt und assimiliert, vielleicht wieder die zarten, natürlichen Grautöne entstehen lassen, die für ein beschwingtes und harmonisches Dasein Voraussetzung sind. An einem Tag wie diesem, in einer Stunde wie dieser von einem beliebigen Punkt der rue Laffitte auf Sacre-Cceur zu blicken, würde mich schon in Ekstase versetzen. So war es jedenfalls immer gewesen, selbst wenn ich hungrig war und kein Dach über dem Kopf hatte. Hier wüßte ich, auch wenn ich tausend Dollar in der Tasche hätte, nichts, was solche Empfindungen in mir zu wecken vermöchte.
An grauen Tagen ging ich in Paris oft zur place Clichy in Montmartre. Von Clichy nach Aubervilliers zieht sich eine lange Kette von Cafés, Restaurants, Theatern, Kinos, Herrenmodeläden, Hotels und Bordellen. Das ist der Broadway von Paris und entspricht jener kurzen Strecke zwischen der 42nd und der 53rd Street. Der Broadway ist hektisch, aufreizend, verwirrend — kein Ort zum Verweilen. Der Montmartre ist gemächlich, träge, unbekümmert, ein wenig schäbig und heruntergekommen, nicht so sehr blendend als vielmehr verführerisch, nicht funkelndes Glitzern, sondern schwelende Glut. Der Broadway hat etwas Aufregendes, oft sogar etwas Magisches, aber ihm fehlt das lebendige Feuer - er ist eine strahlend illuminierte, aber feuersichere Schau, das Paradies der Werbeagenturen. Der Montmartre ist verbraucht, verblichen, verwahrlost, nacktes Laster, käuflich und vulgär. Er ist eher abstoßend als anziehend, aber so verführerisch abstoßend wie das Laster selbst. Dort gibt es kleine Bars, in denen sich fast ausschließlich Huren, Zuhälter, Halsabschneider und Glücksspieler drängen. Wenn man auch tausendmal an ihnen vorbeigeht, so kann man doch schließlich ihrem Sog nicht widerstehen und wird ihr Opfer. Dort in den Seitenstraßen, die vom Boulevard abzweigen, gibt es Hotels von so obszöner Häßlichkeit, daß einen bei dem Gedanken schaudert,
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