Stille Tage in Clichy
Auch ich wartete. Ich war neugierig, auf wen sie wartete. Nach einer halben Stunde, in der ich mehrmals ihren Blick auffing und festhielt, kam ich zu der Überzeugung, daß sie auf jemanden wartete, der die rechten Worte fände. Gewöhnlich braucht man nur ein Zeichen mit dem Kopf oder mit der Hand zu machen, und das Mädchen verläßt seinen Tisch und setzt sich zu einem - wenn es ein solches Mädchen ist. Ich war auch jetzt noch nicht ganz sicher. Sie sah mir zu gut aus, zu gepflegt, zu wohlerzogen, möchte ich sagen.
Als der Kellner wieder vorbeikam, fragte ich ihn, ob er sie kenne. Als er verneinte, bat ich ihn, er möchte sie auffordern, an meinen Tisch zu kommen und sich zu mir zu setzen. Ich beobachtete ihr Gesicht, als er ihr das ausrichtete. Ich empfand ein angenehmes Prickeln, als ich sie lächeln und freundlich zu mir herübernicken sah. Ich hatte erwartet, daß sie sofort aufstehen und herüberkommen würde, aber statt dessen blieb sie sitzen und lächelte noch einmal, diesmal diskreter, dann wandte sie den Kopf ab und schaute verträumt zum Fenster hinaus. Ich wartete einen Augenblick, dann, als ich sah, daß sie keine Anstalten machte, zu mir herüberzukommen, stand ich auf und ging an ihren Tisch. Sie begrüßte mich durchaus herzlich, ganz wie einen Freund, aber ich bemerkte, daß sie ein wenig verwirrt, ja beinahe verlegen war. Ich war unsicher, ob ich Platz nehmen durfte oder nicht, setzte mich dann aber doch zu ihr und verwickelte sie, nachdem ich etwas zu trinken bestellt hatte, rasch in ein Gespräch. Ihre Stimme war noch bestrickender als ihr Lächeln. Sie war wohltönend, tief und kehlig. Es war die Stimme einer Frau, die sich des Lebens freut und es genießt, die sorglos und ungebunden lebt, entschlossen, sich das Quentchen Freiheit, das sie besitzt, zu bewahren. Es war die Stimme einer verschwenderisch Gebenden. Sie rührte eher ans Zwerchfell als ans Herz.
Ich muß gestehen, ich war überrascht, als sie überstürzt erklärte, es sei ein Fauxpas von mir gewesen, mich an ihren Tisch zu setzen. «Ich dachte, Sie hätten verstanden», sagte sie, «daß ich Sie draußen treffen wollte. Das jedenfalls habe ich Ihnen zu telegrafieren versucht.» Sie gab mir zu verstehen, daß sie hier nicht als Professionelle eingeschätzt werden wolle. Ich entschuldigte mich und bot an, mich zurückzuziehen, und sie honorierte diese taktvolle Geste mit einem leichten Händedruck und einem freundlichen Lächeln.
«Was haben Sie da alles?» wollte sie wissen, um rasch das Thema zu wechseln, indem sie vorgab, sich für die Päckchen zu interessieren, die ich auf den Tisch gelegt hatte.
«Nur Bücher und Schallplatten», sagte ich und ließ durchblicken, daß diese sie wohl kaum interessieren dürften.
«Französische Bücher?» fragte sie, wie mir schien mit einem Unterton ehrlicher Neugier.
«Ja», sagte ich, «aber ich fürchte, sie sind ziemlich langweilig. Proust, Celine, Elie Faure... Vermutlich geben Sie Maurice Dekobra den Vorzug, nicht wahr?»
«Darf ich sie einmal sehen? Ich möchte gern wissen, was für französische Bücher ein Amerikaner liest.»
Ich öffnete das Päckchen und gab ihr den Elie Faure. Es war der Tanz über Feuer und Wasser . Sie blätterte darin, lächelte und äußerte sich immer wieder zustimmend, während sie die eine oder andere Passage las. Dann legte sie das Buch nachdrücklich wieder auf den Tisch, klappte es zu und legte die Hand darauf, als wollte sie es geschlossen halten. «Genug davon, lassen Sie uns von etwas Interessanterem reden!» Nach kurzem Schweigen fügte sie hinzu: «Celui-là, est-il vraiment franç ais?»
«Un vrai de vrai» , erwiderte ich mit einem breiten Grinsen.
Sie schien verwirrt. «Es ist ein ausgezeichnetes Französisch», fuhr sie fort, als spreche sie mit sich selbst, «und doch ist es wiederum nicht Französisch ... Comment dirais-je?»
Ich wollte gerade sagen, daß ich durchaus verstand, was sie meinte, als sie sich auf der Polsterbank zurücklehnte, meine Hand ergriff und mit einem schelmischen Lächeln, das ihre Offenheit betonen sollte, sagte: «Wissen Sie, ich bin eine durch und durch faule Person. Ich habe keine Geduld, Bücher zu lesen. Es ist zu viel für mein schwaches Hirn.»
«Man kann im Leben so viele andere Dinge tun», antwortete ich und erwiderte das Lächeln. Und damit legte ich die Hand auf ihr Knie und drückte es zärtlich. Im nächsten Augenblick lag ihre Hand auf der meinen und führte sie an eine zartere Stelle.
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