Stine
sie; ich glaube, sie schläft. Hast du was abzugeben?«
»Ja. Aber ich soll es ihr selber geben.«
»I, gib man...« Und damit griff sie nach dem Brief.
Olga zog aber energisch zurück. »Nein, ich darf nich...«
»Na, denn komme morgen wieder.«
Wanda, trotzdem sie nicht Wand an Wand mit der Schlichtingschen Vorderstube wohnte, mußte trotzdem von dieser Unterhaltung gehört haben, denn als eben die Tür zugeworfen werden sollte, war sie, wie aus der Erde gewachsen, da und sagte: »Gott, Olgachen. Was bringst du denn, Kind? Mutter is doch nich krank?« Olga hielt ihr statt aller Antwort den Brief entgegen. »Ach, ein Brief. Na, denn komm in meine Stube, daß ich ihn lesen kann. Hier is es ja stockduster und wahrhaftig nicht zu merken, daß man bei 'nem Glaser wohnt.«
Dabei nahm sie das Kind bei der Hand und zog es mit sich durch die mit jedem Schritte dunkler werdende Schlichtingsche Wohnung, bis in ihre Hinterstube hinein. Hier mußte sie lachen, als sie den sonderbaren Briefverschluß ihrer Freundin Pauline sah; dann aber öffnete sie die verklebte Stelle mit einer aus ihrem dicken, schwarzen Zopf genommenen Haarnadel und las nun mit sichtlicher Freude:
»Liebe Wanda. Er kommt heute wieder, was mir sehr verkwehr is, denn ich mache gerade reine. Jott, ich bin so ärgerlich und bitte Dich bloß: komm. Ohne Dir is es nichts. Stine kommt auch. Komm Klocker 8, aber nich später und behalte lieb
Deine Freundin
Pauline Pittelkow
,
geb. Rehbein.«
Wanda steckte den Brief unter die Taille, schnitt Olga ein großes Stück von einem in einer Fayenceterrine mit Deckel aufbewahrten altdeutschen Napfkuchen ab und sagte dann: »Un nu grüße Mutterchen und sag ihr, ich käme Punkt acht. Mit 'm Schlag. Denn wir von 's Theater sind pünktlich, sonst geht es nich. Und wenn du wiederkommst, Olgachen, so kannst du gleich die kleine Hoftreppe raufkommen, bloß drei Stufen, da brauchst du vorn nich durch und is kein Fräulein Flora nich da, die dich anschreit und wegschicken will. Hörst du?« Und in einer Art Selbstgespräch setzte sie hinzu: »Gott, diese Flora; je weniger Bildung, je mehr Einbildung. Ich begreife diese Menschen nich.«
Olga versprach, alles zu bestellen, und eilte mit ihrem Beutestück ins Freie. Kaum draußen, sah sie sich noch einmal um und biß dann herzhaft ein und schmatzte vor Vergnügen. Aber schnöder Undank keimte bereits in ihrer Seele, und während es ihr noch ganz vorzüglich schmeckte, sagte sie schon vor sich hin: »Eigentlich is es gar kein richtiger... Ohne Rosinen... Einen mit Rosinen eß ich lieber.«
Viertes Kapitel
Als Olga, nach Erledigung aller ihr aufgetragenen Gänge, den zu Kaufmann Marzahn an der Ecke natürlich mit eingerechnet, wieder nach Hause kam, fand sie hier alles verändert und Tante Stine damit beschäftigt, die rote Wollschnur der Tüllgardinen in die messingblechenen Halter einzuhaken. Überall herrschte Sauberkeit und Ordnung – nur in der Nebenstube war man nicht fertig geworden –, und das einzige, was als Störung gelten konnte, war ein eben abgegebener Korb mit Weinflaschen und eine vorläufig auf einen danebenstehenden Stuhl gesetzte Hummermayonnaise.
Olga berichtete, daß Wanda kommen würde, was von seiten der Pittelkow mit sichtlicher Freude vernommen wurde. »Wenn Wanda nich da is, is es immer bloß halb. Ich möchte mir nich alle Tage hinstellen un Prinzessin spielen; aber das muß wahr sein, alle von 's Theater haben so was un kriegen einen Schick un können reden. Wo's ihnen eigentlich sitzt, ich weiß es nich und am wenigsten bei Wanda. Wanda war immer die Faulste von uns un die Klügste auch nich un ließ sich vorsagen, und ohne Lehrer Kulike... na, mit dem hatte sie's. Überhaupt, es war 'ne pfiffige Kröte, was sonst die Dicken eigentlich nich sind. Aber immer gut und kein Neidhammel und gab immer was ab.«
Während dieser Rede, die sich nur halb an Stine richtete, war die mitten auf dem Sofa stehende Witwe mit Geraderückung dreier Bilder beschäftigt und trat, als sie damit fertig war, vom Sofa her bis an die Türschwelle zurück, um von hier aus noch einmal alles überblicken und sich von dem Gelungensein ihres Arrangements überzeugen zu können. Wegen solcher Dinge gelobt zu werden war ihr, bei ihrer im Grunde genommen ganz auf Wirtschaftlichkeit und Ordnung gestellten Natur, ein wahres Herzensbedürfnis, und wenn sie je zuvor einen Anspruch auf ein dafür einzuheimsendes Lob gehabt hatte, so sicherlich heute. Alles, was
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