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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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den Mund, dessen Unterlippe ein wenig voller war. Er liebte die Sehnsucht ihrer Augen, die ständig auf der Suche nach einem Geheimnis zu sein schienen. Selbst jetzt noch. Unter Aufbietung aller Kräfte hob er die Arme und schlang sie um ihre Schultern. Doch nicht lange ertrug er die statische Belastung, und während seine Hände langsam abwärts glitten, sagte er: »Nein, das ist nicht wahr. Du siehst viel besser aus als ich. Du hast ja die ganze Zeit hindurch etwas getan; du hattest Grund zu hoffen. Glaub mir, du siehst mindestens hundert Jahre jünger aus als ich.«
Sie setzte sich zurück. Der leichte Schrägschnitt ihrer Augen verlieh ihrem Ernst eine Spur von Rätselhaftigkeit. Wie könnte sie lächeln? »Ich glaube dir.«
Schier unersättlich musterten sie sich, und Lidschlag um Lidschlag entsann er sich aller Einzelheiten ihrer Geschichte. Ihm war, als erzählte sie ihm jemand.
»Woran glaubten wir damals? Hofften wir wirklich, daß man uns finden würde? Warteten wir Stunden oder Tage? Eine wahnwitzige Hoffnung. Wir waren lebendig begraben.«
»Ich bin gewiß, sie suchten uns.«
»Jedes Geräusch, jedes Knistern aus den Emittern ließ uns zusammenfahren. Wir schrien, bis uns die Stimmen versagten.«
»Wie sinnlos zu schreien. Jedes Flüstern, jeden Atemhauch von uns, steigerten die Komkatoren zum Dröhnen. Niemand hörte es.«
»Wir machten es uns später klar.«
»Als das Schweigen uns zwang nachzudenken.«
»Wer kam zuerst darauf?« fragte er.
»Ich glaube, du warst es.«
»Aber du machtest den Vorschlag zu schlafen.«
»Sonderbar«, erwiderte sie, »daß gerade du dagegen Bedenken vorbrachtest. Eindringlich wie einem Kind erläutertest du mir die Gefahr von Durchblutungs- und Stoffwechselstörungen.«
»Selbstverständlich«, betonte er. »Das tonisierende Prinzip der Anzüge war ebensowenig wie die Transvitaldroge jemals über so lange Zeiträume erprobt worden.« Unsicher, ob man darüber lächeln konnte, verzog er das Gesicht. »Eigentlich hatten wir eine Menge Glück.«
»Das sagst du, der du mich gelehrt hast, der Kraft meines Willens zu vertrauen?« Und nach einer kleinen Pause fuhr sie fort: »Natürlich, du kannst es mir ja erst jetzt sagen.«
»Es war ein Experiment mit dem Tod.« Er suchte ihre Züge nach Anzeichen ab, die sein eigenes Erschauern widerspiegeln sollten. Aber sie lächelte.
»Es ist zu spät, darüber zu erschrecken.«
War ihr Antlitz damals, als sie aus der Ohnmacht zu sich kamen und das Ausmaß ihrer Katastrophe zu begreifen begannen, genauso unerschütterlich und in seiner Ruhe ewig dagewesen? Er stellte sich ein angstverzerrtes Gesicht vor, aber es war nicht das ihre. In ihm keimte die gleiche, beinahe kindliche Freude, wie damals, da sie feststellten, daß alles noch funktionierte, daß sie denken konnten und atmen. Er fühlte sich einem Höhepunkt nahe, vergleichbar dem Augenblick, als sie bei der fünften oder sechsten Arbeitsperiode beide Arme freibekam. Die Zeit erhielt eine neue Dimension. Ihre Hoffnung lebte in unvorstellbar kleinen Schritten. Ohne sie hätten sie nicht überlebt.
Beim zehnten Mal schien alles zusammenzubrechen. Rutschender Schutt begrub ihren angespannten Lebenswillen.
»Ich hatte furchtbare Angst um dich«, sagte er.
Als erschiene ihr seine nachträgliche Furcht absurd, schüttelte sie den Kopf. »Ich sah uns unentrinnbar gefangen. Aber damals warst du einer denkwürdigen Prophetie fähig. Etwas in deiner Stimme, in deinen Gedanken und Visionen, ja, Visionen«, betonte sie, »schien nicht von dieser Welt zu sein. Mit einer Sicherheit und Überzeugung erzähltest du von der Welt da draußen, als könntest du sie sehen. Das machte mir Mut. Ich begann von vorn. Ich hatte den Eindruck, dein Wille sei unerschöpflich und deine Phantasie zügellos. Ich wollte genauso sein.«
»Visionen?« fragte er sich leise. »Ich sehe mit den Augen des Teufels. Er steht unbeweglich am Anfang einer Ebene. In seinem Rücken befinden sich Felsmassive, Sie sehen aus wie ein Schweizer Käse. Der Saturn geht auf und wieder unter. Tag für Tag, Stunden für Stunde, Jahrhundert für Jahrhundert. Den wievielten haben wir heute?« fragte er unvermittelt.
Sie schwieg. Der Coder nannte das Datum.
»Wir haben«, äußerte er nach kurzem Überlegen, »um zwei Tage ein schwerwiegendes Jubiläum verpaßt. Vorgestern vor einundeindreiviertel Jahrhundert sahen wir uns zum ersten Mal. Du tatest Dienst auf Merkur, ich in der Basis auf Titan. Wir tauschten irgendwelche langweiligen

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