Haus der Vampire 02 - Der letzte Kuss-ok
1
D as ist gar nicht passiert, sagte sich Claire. Es ist nur ein böser Traum, nur wieder einmal ein böser Traum. Du wirst aufwachen und das alles wird sich wie Nebel auflösen...
Sie hatte ihre Augen fest zugepresst. Ihr Mund fühlte sich trocken an, ausgedörrt. Sie hatte sich an Shanes warmen, festen Körper gedrückt, der zusammengerollt auf der Couch des Glass House lag.
Sie hatte Angst.
Es ist nur ein böser Traum.
Aber als sie die Augen öffnete, lag ihr Freund Michael noch immer tot vor ihr auf dem Fußboden.
»Mach, dass die Mädchen das Maul halten, Shane, oder muss ich selbst dafür sorgen?«, blaffte Shanes Vater. Er schritt auf dem Holzboden hin und her, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Er schaute Michaels Leiche nicht an, die in einen dicken, staubigen Samtvorhang gehüllt war; doch sie war das Einzige, was Claires Augen sahen, als sie sie wieder öffnete. Sie war so groß wie das Universum und sie war kein Traum, der vergehen könnte. Shanes Dad war hier und er war unheimlich und Michael...
Michael war tot. Nur, dass Michael vorher auch schon tot war, oder? Vielmehr geisterhaft. Tagsüber tot... nachts lebendig...
Claire bemerkte erst, dass sie weinte, als sich Shanes Dad ihr zuwandte und sie mit rot geränderten Augen anstarrte. Solche Angst hatte sie noch nicht einmal gehabt, als sie in Vampiraugen geblickt hatte...naja, vielleicht doch ein- oder zweimal, denn Morganville war im Allgemeinen ein unheimlicher Ort und die Vampire waren ziemlich furchterregend.
Shanes Vater, Mr Collins, war ein groß gewachsener, langbeiniger Mann mit wilden, ergrauenden Locken, die bis auf den Kragen seiner Lederjacke fielen. Er hatte dunkle Augen. Irre Augen. Einen verwahrlosten Bart. Und eine riesige Narbe zog sich quer über sein Gesicht, runzlig und leberfarben.
Eindeutig unheimlich. Kein Vampir, nur ein Mensch, und das machte ihn auf eine ganz andere Art furchterregend.
Sie schniefte, wischte sich über die Augen und hörte auf zu weinen. Etwas in ihr sagte: Erst überleben, dann weinen. Sie hatte den Eindruck, dass dieselbe Stimme auch zu Shane gesprochen hatte, denn der schaute die am Boden liegende, samtbedeckte Leiche seines besten Freundes nicht an. Er beobachtete seinen Vater. Seine Augen waren ebenfalls rot, aber ohne Tränen.
Nun wurde ihr auch Shane unheimlich.
»Eve«, sagte Shane sanft und dann lauter: »Eve! Halt die Klappe!«
Ihre vierte Mitbewohnerin, Eve, war an der gegenüberliegenden Wand bei den Bücherregalen, so weit wie möglich von Michaels Leiche entfernt, zu einem hilflosen Häufchen Elend zusammengebrochen. Den Kopf zwischen den Knien, weinte sie heftig und verzweifelt. Als Shane ihren Namen rief, schaute sie auf; schwarze Schlieren aufgelöster Mascara zogen sich über ihr Gesicht, die Hälfte ihres Goth-Make-ups war verschwunden. Claire fiel auf, dass sie ihre Mary-Jane-Schuhe mit den Totenköpfen anhatte, bemerkte Claire. Sie wusste nicht, warum ihr das so wichtig erschien.
Eve sah völlig verloren aus und Claire rutschte von der Couch, um sich neben sie zu setzen. Sie schlangen die Arme umeinander. Eve roch nach Tränen und Schweiß und nach einer Art süßlichem Vanilleparfüm und sie schien mit dem Zittern gar nicht mehr aufhören zu können. Das war der Schock. Das sagten sie jedenfalls immer im Fernsehen. Eves Haut fühlte sich kalt an.
»Schhhh«, wisperte Claire ihr zu. »Michael ist okay. Alles wird gut.« Sie hatte keine Ahnung, warum sie das sagte – es war gelogen –, sie hatten alle gesehen, was passiert war... aber etwas sagte ihr, dass das jetzt die richtigen Worte waren. Und tatsächlich ließ Eves Schluchzen nach, hörte dann ganz auf und sie bedeckte ihr Gesicht mit zitternden Händen.
Shane hatte nichts mehr gesagt. Er musterte noch immer seinen Vater mit einem intensiven, stieren Blick, den die meisten Typen für Leute reservieren, die sie zu Hackfleisch verarbeiten wollen. Seinen Dad kratzte das offenbar herzlich wenig – falls er es überhaupt bemerkt hatte. Er ging immer noch auf und ab. Die Typen, die er mitgebracht hatte – wandelnde Muskelschwarten in schwarzer Motorradlederkluft, mit rasiertem Schädel, Tattoos und allem Drum und Dran – standen mit verschränkten Armen in den Ecken herum. Derjenige, der Michael umgebracht hatte, ließ gelangweilt sein Messer durch die Finger kreisen.
»Steh auf«, sagte Shanes Dad. Er hatte aufgehört, auf und ab zu gehen, und stand nun direkt vor seinem Sohn. »Lass die Scheiße, Shane, sonst...
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