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Störgröße M

Störgröße M

Titel: Störgröße M Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernd Ulbrich
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nach einhundertsiebzig Jahren, bin ich? Ich bin fähig, willentlich über meinen Körper zu herrschen. Bin ich ein Monstrum oder ein Mensch? Was hat die Zeit in mir zerstört? Siebzehn Stunden? Die Rechnung war naiv. Aber er hatte ein Recht auf Illusionen, denn er fand keine Möglichkeit festzustellen, ob er sich alt oder jung, unverbraucht oder ausgebrannt fühlte. Plötzlich fieberte er darauf, daß sie es geschafft haben würde. Die Enge des Schutzanzuges kam ihm erstickend vor. Er bäumte sich auf und schrie, bei jedem Mal mit einem Mehr an verzweifelter Anstrengung.
»Nicht!« rief Lauretta. »Laß das sein! Ich bin ja gleich bei dir. Gleich, nur einen Augenblick noch. Hab einen Augenblick Geduld; so warte doch, warte!« Ihre Stimme flehte und beschwor. In ihr lag die Kraft, einen Sterbenden zurückzurufen.
Erschöpft sank er zurück, und zwischen seinen Atemstößen vernahm er die Stimme des Coders, der ihn über seinen Energieverbrauch informierte. Er schaltete ihn ab und versank in einen Dämmerzustand, der ihn vor sich selbst beschützte. Er nahm seine Realität nicht mehr wahr. Aber nicht seine Gedanken beschäftigten sein Bewußtsein, nicht sein Flüstern. Es waren nicht seine Blicke, die über die Ebene schweiften, hinunter in den Schatten der Bodenspalten, hinauf zu dem riesenhaften Gestirn.
Ein schabender Laut in seiner Nähe erinnerte ihn an die äußere Welt. Wer sprach zu ihm? Schweigen füllte eine Pause. Dann setzten die Geräusche wieder ein.
»Lauretta!« rief er. »Liebste! Hast du es geschafft?«
    »Herrgott, Saul!« sagte Demperer, »schmeiß endlich deinen lahmen Arsch in die Höhe! Wir haben schließlich einen Zeitplan zu erfüllen.«
    Wie um ein Aufrechtsetzen anzudeuten, lüftete Saul ein wenig den Hintern. »Reicht das?«
»Steck dein Zeug weg«, sagte Demperer, »wir müssen.«
Saul grinste. »Was ist los mit dir? Adomeitis?«
»Was, Adomeitis?«
»Na, du hast Schiß vor ihm.«
»Quatsch, Schiß. Er hat recht. Er hat recht, wenn er Pünktlichkeit fordert.«
»Hat er.«
»Na also.«
Saul musterte ihn. »Komisch, hast dich doch sonst nicht drum geschert. Wir haben schließlich immer einen Dreh gefunden, ihn auszutricksen.«
»Es war immer kindisch. Für ein paar freie Stunden! Kinderei.«
Achselzuckend sagte Saul: »Waren wir uns nicht mal einig, daß dieser Job der einzig mögliche ist? Also, was ist los mit dir? Mann, alte Mondraupe! Klar, dieser Job wär’ genauso beschissen wie alle anderen, wenn man ihn nicht einrichten könnte, wie man ihn braucht. Wir haben ihn eingerichtet! Sieh dir diese Steinwüste da draußen an! Wie willst du das aushalten auf die Dauer, wenn du dir nicht ein bißchen Spaß verschaffst? Ich will in Ruhe essen, verstehst du. Das ist mein Spaß!«
»Erzähl das Adomeitis.«
Sie sahen sich an und plötzlich überkam sie grenzenlose Heiterkeit. Ihr Gelächter klang animalisch, sie prusteten und schlugen sich auf die Schenkel. Ungebrochen existierte die kollegiale Vertrautheit der vergangenen Monate. Die Freude über ihre Unabhängigkeit überwog letztlich alle Bedenken. Demperer wischte sich schließlich die Tränen aus den Augenwinkeln, und während Sauls Gelächter noch aufflackerte, sagte er anscheinend betrübt, seufzend und mit komischer Resignation: »Wir werden ewig hier sitzen. Wir werden ewig defekte Sonden reparieren.«
»Na und«, sagte Saul. »Ist doch das Vernünftigste, was man auf dieser Welt tun kann.« In den Worten lag ein Ton, der, Demperer aufhorchen ließ. War das Bitternis? Es war etwas Unbekanntes! Er musterte seinen Kollegen, aber die einfältigfreundliche Grobheit seiner Züge schien ein reiner Spiegel seiner Seele zu sein.
Mit zwei, drei Handgriffen schloß Saul Thermosbehälter und Besteck weg. Seine Finger spielten über das Armaturenbrett, und sofort ertönte das Instrument, das er beherrschte. Ein kurzes, tiefes Aufseufzen floß ein in einen fliehenden Ton. Ein Akkord ohne Ende.
Die Innenbeleuchtung war erloschen. Ein leichtes Zittern pflanzte sich vom Fahrwerk her über die ganze Spinne fort.
»Mach Licht«, hörte Saul Demperer sagen.
Traumwandlerisch sicher fuhr seine Hand nach links. Doch dann zögerte er. Wozu Licht? Er ist mein Kumpel, sagte er sich. Ein besserer, als ich je hatte. Warum soll ich ihm die Freude nicht machen?
Auf dem Rücken der Spinne erglühte ein Auge, und der Strahl erhellte Hunderte von Metern weit den Weg.
Gemeinsam fuhren sie die Strecke zum zweiten Mal. Doch Saul war länger auf dem Mond und kannte sich

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