Störgröße M
Standarte, zurückgelassen von Forschern und fliehenden Heeren, von Konquistadoren und Strafexpeditionen, von einsamen Helden. Unbewußt war es ihm ein so gewohntes Bild, daß Demperer die drohende Gebärde, die ein empfindsameres Gemüt hätte dareinlegen können, nicht einmal als eine Ahnung wahrnahm. Und doch überkam ihn der Eindruck, es wäre mehr als einfach nur Staub.
»Liebe«, sagte Saul. »Als wenn’s so was gäbe. Ist doch auch nur ‘ne Phrase. Romeo und Julia, was? Mensch, erzähl mir nichts. Sie konnten zueinander nicht kommen! Hahaha. Das erlebst du nicht und ich nicht. Das erlebt überhaupt kein normaler Mensch. Höchstens irgendwelche Schöngeister, und auch bei denen ist’s wahrscheinlich nur ‘ne Blähung im Gehirn. Es kann schön sein, ja. Es kann prickeln. Aber nenn’s bloß nicht Liebe. Das haben Dichterlinge erfunden. Traumtänzer.«
Es klang unendlich bitter. Da stand einer vor einer Mauer, und Demperer ahnte nicht, wie sein Kumpel dahin gekommen war. Nachträglich bereute er seinen Witz mit dem Ast. Was sollte er Saul sagen? Einen Trost? Er fühlte sich ihm auf geheimnisvolle Weise verbunden, aber etwas hatte sich in den letzten Stunden zwischen ihnen verändert. Eine ernsthafte Stimmung verlängerte ihr Schweigen. Er hätte seine Geschichte hinuntergeschluckt, weil er sich daran gewöhnt hatte, daß sie niemanden etwas anging. Aber es war ihm unmöglich, weiter zu schweigen oder weiter zu frotzeln.
Das verschwiegene Antlitz des Riesen Saturn goß seinen Glutstrom über sie aus. Er setzte sich zurück, sah hinaus und hinauf zu ihm, verstellte die Rückenlehne, fingerte an den Manschetten seiner Ärmel und begann dem Techniker Saul, seinem Kollegen und vielleicht Freund, die Geschichte einer verlorenen Liebe zu enthüllen. Sein Großvater hatte sie ihm erzählt, und der hatte sie wiederum von seinem Großvater, und der hatte sie eigentlich selber erlebt, denn es war die Geschichte seines Zwillingsbruders. Die Familie pflegte wie ein Heiligtum die Geschichte, deren Poesie Garantie genug sein mochte für die Wahrhaftigkeit eines jeden Satzes, eines jeden Wortes, das auf die Enkel überkam.
In seinem Rücken verspürte Canabis eine Bewegung. Lauretta hatte seine Beine angehoben, und mehrfach ansetzend, rollte sie ihn endlich aus der Mulde. Er kippte über die linke Schulter ab und rutschte bis ans Ende der Geröllzunge. Er meinte, eine Flüssigkeit von sehr hoher Dichte trage ihn, flache, schwere Wellen. Wie um die Fingerspitzen in das Naß zu tauchen, breitete er die Arme aus. Das war seine erste Bewegung seit hundertundsiebzig Jahren.
Sie kniete sich neben ihn und bettete seinen Kopf auf ein Polster aus Steinen. Zum ersten Mal nach so langer Zeit stöhnte er vor Wohlbefinden. Tief und erlöst atmete er eine Weile, und dann sagten sie gemeinsam: »Jetzt!«
Der Feierlichkeit des Augenblicks ein Nonplusultra zu verleihen, hatten sie beschlossen, sich einmal, ein einziges Mal nur, für eine Minute zu sehen. Sie wollten der Vision voneinander, die sie einundeindreiviertel Jahrhundert lang begleitet hatte, ein Ende setzen. Die Hoffnung mußte durch die Gewißheit ersetzt werden. Längst schon hatten sie das Prinzip des minimalen Energieverbrauchs verletzt. In der vergangenen Stunde hatte ihr Organismus mit schicksalhafter Intensität gearbeitet. Die Aggregate der Anzüge gaben die Leistung her, für die sie einmal konstruiert worden waren, und lugten die Stoffwechselprodukte ein in den Kreislauf zwischen Ausscheidung und Aufnahme. Nicht ein Quentchen ging verloren. Einzig die Energiezellen verbrauchten sich.
Das Licht der Helmscheinwerfer vermittelt dem Raum eine Struktur, deren nüchterne Harmonie die Silhouetten ihrer Körper in sich bettete.
»Wie schön du bist«, sagte er.
Ein geschlechtlos ausgemergeltes, wächsern-vergilbtes Antlitz hob sich ihm im Strahlenkranz entgegen. Nur die Augen schienen das Leben bewahrt zu haben, einen Glanz, der sich augenblicklich vertiefte und in ihre Wangen zwei glitzernde Schnitte grub, schmale Kanäle in ödem Land. Sie beugte sich zu ihm nieder. Sie umarmten einander und sprachen nicht aus, was sie beide dachten.
Jetzt weiß ich, wie ich ausgehe.
Lange verharrten sie so, schweigend, in unüberbrückbarer Nähe vor sich das Gesicht des anderen. Er schloß die Augen und sah, daß sie sich nicht verändert hatte. Ihr glattes Haar fiel am Oval des Gesichts vorbei, die Brauen wölbten sich in die hohe Stirn. Er liebte ihre etwas zu große Nase, das sanfte Kinn,
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