Stolen Mortality
davon ab, dass er selbst hellbraune und Junias strahlend grüne Augen hatte.
„Willst du es heute allein versuchen?“, fragte er, als er den Wagen zwischen den Haselnusssträuchern einparkte. Ein paar Zweige kratzten über den Lack. Insgeheim hoffte er, dass sein Bruder verneinen würde. Junias ’ Entgleisung lag über einen Monat zurück, seitdem war er sehr beherrscht und vorsichtig vorgegangen. Doch Jamian hatte ihn nie aus den Augen gelassen. Es war an der Zeit, etwas Vertrauen zurückzugeben. Zumindest anbieten wollte er es.
Zu seinem heimlichen Entsetzen nickte Junias trotzig und stieg aus dem Wagen.
„Ich schaffe es.“ Es klang, als müsste er sich selbst überzeugen. „In einer halben Stunde bin ich wieder hier.“ Damit verschwand Junias flink und lautlos wie eine Katze zwischen den Bäumen, um einen geeigneten Menschen zu suchen.
Jamian ließ das Gesicht in seine Handflächen sinken und verharrte so einen Moment, das Beste hoffend, ehe er selbst auf Jagd ging.
*
Junias fühlte den Herzschlag in jeder Faser seines Körpers. Am liebsten wäre er umgekehrt und hätte Jamian doch um Hilfe gebeten, aber er ahnte, dass es zu spät war. Bestimmt war Jamian längst weg. Und irgendwann musste er es ja auch wieder allein schaffen, das hatte er schließlich Dutzende Male getan.
Bis zu dem Tag, an dem sein Opfer, ein Campingtourist aus London, plötzlich tot unter seinen Händen gelegen hatte.
Junias bemühte sich, die Erinnerung an das leblose Gesicht und die aufgerissenen, leeren Augen zu verdrängen. Er schüttelte den Kopf, schlug sich mit der Handfläche vor die Stirn, als könnte er die Bilder damit vertreiben. Aussichtslos. Er konnte sie nie vertreiben. Wie sollte man je vergessen, dem Tod ins Auge zu blicken, wenn man ihn selbst herbeibeschworen hatte?
Was waren seine Gefühle wert im Vergleich zu denen derer, die einen Freund, einen Geliebten oder einen Sohn verloren hatten? Er würde sich das, was geschehen war, nie verzeihen. Aber weitermachen musste er ja trotzdem.
Er entdeckte ein offenes Fenster im ersten Stock eines Einfamilienhauses. Er schloss die Augen und lauschte, hörte durch die leisen Geräusche der nächtlichen Stadt einen ruhigen Atem aus der Richtung dieses Fensters. Eine Frau schlief dort im Inneren.
Verstohlen sah er sich um, nahm ein paar Schritte Anlauf und sprang mit einem kraftvollen Satz bis ans Fensterbrett. Während er hineinkletterte , bemühte er sich , die Geranien im Blumenkasten nicht zu zerdrücken, dann kauerte er sich auf dem Teppichboden des Schlafzimmers nieder. Alles blieb ruhig, so erhob er sich und trat lautlos an das Bett der Frau. Die zweite Hälfte des Ehebetts war leer. Junias verschwendete keine Zeit damit, sich lange umzusehen. Angeekelt von sich selbst legte er der Frau die Hand auf die nackte Schulter und murmelte sicherheitshalber das hypnotische, lang gezogene „Schlaf“, das seinem Opfer neben den Erinnerungen auch jede Gegenwehr nahm. Dann begann er, von ihrer Energie zu nehmen, von ihrem Prana.
Das war es, was Kienshi zum Überleben brauchten. Was sie selbst nicht mehr hatten, und was ihnen, wenn sie es raubten, nicht nur das Weiterleben ermöglichte, sondern außerdem die übernatürliche Stärke verlieh, mit der sie in der Lage waren, gegen Vampire anzutreten.
Junias keuchte leise auf, als ihre Kraft auf ihn überfloss. Er brauchte mehr. Viel mehr.
Es war immer dasselbe. Zuerst musste er sich überwinden, überhaupt anzufangen und dann war die Kraft, die in ihn überging, so berauschend, dass er sich fast darin verlor. Er kämpfte gegen die Schwere in seinem Kopf, die seine Lider langsam zudrücken wollte.
Nur noch ein bisschen, ein bisschen kann ich es noch aushalten.
Gewaltsam hielt er seine Augen offen. Es war ein schmaler Grat, auf dem er tanzte. Nahm er zu wenig, gab es ihm nichts außer stärkerer Gier nach Leben, und er müsste ein weiteres Opfer nehmen. Ein erneutes Risiko eingehen. Nahm er auch nur einen Hauch zu viel, würde er in Ekstase fallen. Sein Körper würde sich in den anderen Leib krallen wie ein Raubtier, das Blut geleckt hatte, und so lange weiter das Leben an sich reißen, bis das Opfer tot war. Die gefährliche Schattenseite des bösen Vampirzaubers käme hervor.
So, wie es schon einmal geschehen war. Der Gesetzesbruch, der einen jungen Mann das Leben gekostet hatte und Junias ’ Bruder die wertvolle Sterblichkeit kosten sollte, und damit jede Aussicht auf Frieden nach dem Tod. Unsterbliche fanden niemals
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