Storm: Thriller (German Edition)
mit ihrem knochigen Zeigefinger darauf, als könnte ich das übersehen.
»Ich will nicht behaupten, dass irgendjemand den Tod verdient hat, ganz egal, wie habgierig er ist«, sagte sie geradeheraus. »Das ist wirklich eine schreckliche Geschichte. Aber diese beiden Männer waren alles andere als Engel, Alex. Die Leute werden eine gewisse Befriedigung empfinden, und damit musst du klarkommen.«
»Und auch dir einen wunderschönen guten Morgen.«
Ich beugte mich zu ihr hinunter, gab ihr einen Kuss auf die Wange und legte automatisch meine Hand auf die Teetasse, die sie vor sich stehen hatte. Eine kalte Tasse bedeutete, dass sie schon lange wach war, und diese hier fühlte sich kühl an. Ich nörgle nur ungern an ihr herum, aber ich versuche eben auch, darauf zu achten, dass sie ausreichend Ruhe bekommt, vor allem seit ihrem Herzinfarkt. Nana wirkt zwar alles andere als zerbrechlich, aber sie ist immerhin schon über neunzig.
Ich goss Kaffee in meinen Thermosbecher und setzte mich, um einen Blick in die Zeitung zu werfen. Es ist grundsätzlich interessant zu erfahren, was ein Killer über sich selbst zu lesen bekommt. Der Artikel war mit vorgefassten Meinungen gespickt und an ein paar entscheidenden Stellen schlicht und einfach falsch. Wenn angeblich kluge Menschen dämliches Zeug verfassen, schaue ich weg, und auch das hier war ein Artikel, der unbedingt ignoriert gehörte.
»Das Ganze ist sowieso ein einziges riesiges Hütchenspiel«, fuhr Nana fort. So langsam kam sie auf Touren. »Da wird irgendjemand mit der Hand in der Keksdose erwischt, und wir alle tun so, als wäre derjenige der Einzige, der so was macht. Glaubst du vielleicht, das war der erste bestechliche Kongressabgeordnete hier in Washington?«
Ich schlug die Fortsetzung auf Seite zwanzig auf. »Eine optimistische Grundhaltung ist etwas Wunderbares, Nana, die sollte man nicht einfach so über Bord werfen.«
»Werd bloß nicht frech, so früh am Morgen«, entgegnete sie. »Und außerdem bin und bleibe ich Optimistin, aber eben eine, die die Augen offen hält.«
»Und, hast du sie heute Nacht auch offen gehabt?« Es wäre vielleicht auch geschickter gegangen. Sich nach Nanas Gesundheitszustand zu erkundigen, ist ungefähr so, als würde man versuchen, Gemüse in die Käsemakkaroni der Kinder zu schmuggeln. Man muss sehr vorsichtig vorgehen, sonst erreicht man gar nichts, und im Normalfall passiert dann auch genau das: Man erreicht gar nichts.
Natürlich wurde sie sofort lauter und signalisierte damit, dass sie mich sehr wohl verstanden hatte, mich aber einfach ignorieren würde.
»Hier habe ich noch eine Perle der Weisheit für dich. Wie kommt es eigentlich, dass jedes Mal, wenn wir von einem Mord in dieser Stadt erfahren, die Opfer entweder arm und schwarz oder reich und weiß sind? Wie kommt denn das, Alex?«
»Bedauerlicherweise erfordert dieses Thema sehr viel mehr Zeit, als ich heute Morgen zur Verfügung habe«, sagte ich und schob meinen Stuhl zurück.
Sie streckte die Hand nach mir aus. »Wo willst du denn um diese Zeit schon hin? Komm, ich mach dir ein paar Eier … und was willst du mit der Zeitung?«
»Ich will erst noch mal ins Büro und mich ein bisschen schlaumachen, bevor ich die ersten Gespräche führe«, erwiderte ich. »Und warum nimmst du dir nicht erst mal den Gesellschaftsteil?«
»Oh, weil es in Hollywood keinen Rassismus gibt, willst du das damit sagen? Wach endlich auf.«
Ich lachte, gab ihr einen Abschiedskuss und mopste noch einen Schokoladenkeks, alles gleichzeitig.
»So ist es brav. Einen schönen Tag, Nana. Hab dich lieb!«
»Nicht so von oben herab, Alex! Hab dich auch lieb.«
10
Mitte des Vormittags saß ich Sid Dammler gegenüber, einem der beiden Seniorpartner der Lobbyagentur Dammler-Mickelson in der L-Street. Craig Pilkey war einer ihrer wichtigsten Regenmacher gewesen, wie diese Leute in der Branche genannt werden. Allein im letzten Jahr hatte er elf Millionen an Provisionen eingestrichen. Hier würde man ihn also auf jeden Fall vermissen.
Bis jetzt lautete die offizielle Sprachregelung der Agentur, dass man »keinerlei Kenntnis« von illegalen Handlungen der Mitarbeiterschaft besitze. In Washington wird diese Formulierung in der Regel benutzt, um sich den Rücken frei zu halten, ohne gleichzeitig juristisch angreifbar zu sein.
Nicht, dass ich Vorurteile gegenüber Dammler gehabt hätte. Die stellten sich erst ein, nachdem ich vierzig Minuten lang im Empfangsbereich auf ihn gewartet und dann weitere
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